Mittwoch, 26. August 2009

Triumph des männlichen Willens

Forum Wissenschaft 2/2002

Moderner Leistungs- und selbst Erlebnissport ist meist nicht nur männlich, sondern auch "soldatisch" und national konnotiert, wie sich in der entsprechenden Literatur ebenso wie in der Medienberichterstattung unschwer feststellen lässt. Welche Denkmuster dabei zum Tragen kommen, wie diese historisch entstanden und aus der Eroberungsphase in die Erlebnisphase transportiert worden sind, zeigt Ronald Lutz exemplarisch an der Geschichte des Bergsteigens einschließlich der modernen Darstellung auf.

Es gibt im Sport einen originären Zusammenhang zwischen traditionalen männlichen Tugenden wie Disziplin, Kampf, dem Kriegsgetöse und einem versteckten Nationalismus. Das ist in der Moderne nur am Rande sichtbar, lässt sich aber am Extremen durchaus diskutieren. Insbesondere bieten sich hierfür die sportive Eroberung der Bergwelten und die Herausbildung des Bergsports zum Massensport an, die von der Betonung einer absolut gesetzten Männlichkeit begleitet werden, die bis heute andauert, auch wenn sich immer mehr Frauen auf den Bergen tummeln. Die Anwesenheit des weiblichen Geschlechts macht aus einer männlichen Welt noch lange keine andere.

Ich will diese Zusammenhänge aus dem bürgerlichen Alpinismus eines Eugen Guido Lammer herleiten, der explizit Bergsteigen als Kampf und als persönliche Herausforderung des Mannes darstellte. Sein "Wüten und Rasen" am Berg steht exemplarisch für Gehalte des Bergsteigens, die aus der Eroberungsphase in die Erlebnisphase der Gegenwart tradiert wurden.

Formierung moderner Tugenden

Lammer war einer der ersten, der nicht um der Berge willen nach oben stieg, sondern um seinetwillen. Er bereitete den Übergang von der reinen Eroberung der Berge zum Erlebnis vor. Dabei formulierte er die Tugenden, die, mit der Eroberung bereits konzipiert, fortan Grundlage für das Erlebnisbergsteigen werden sollten. Was von den Heutigen neusprachlich als Abenteuer, Wohlbefinden, Selbtverwirklichung usw. codiert wird, hat Lammer noch klar zum Ausdruck gebracht: "Derartige Stunden sind nicht mit Jahren aus dem Alltagsleben aufzuwiegen, sie sind für kulturmüde Nerven süßer als Morphium."

Lammer deutet das Extreme als eine Erotik des Rausches, einer totalen Wollust sowie einer Verausgabung und Ekstase in Todesnähe, die nur durch eiserne, männliche Disziplin, durch radikale Kasteiung des Leibes und durch den Sieg der Vernunft über den sperrigen Körper erreicht werden kann. Insbesondere die Todesnähe schärft dabei die Selbstwahrnehmung des Bergsteigers und stellt ihn in eine naturnahe Situation eines archaischen Kampfes in der Wildnis. Tod ist die regulative Idee, der Grenzwert und der Aufbruch in Selbsterkenntnis zugleich - erst in seiner Nähe wird der Mann am Berg sich seiner Besonderheit und seiner Kraft bewusst.

Vor der Negativfolie einer als platt und banal erfahrenen bürgerlichen Normalität lässt diese Todesgefahr das Leben spüren, sie bringt die Erkenntnis, dass es anderes gibt als die Alltäglichkeit im Tal: Das Flachland wird als großstädtische, von utilitaristischem Kalkül, Arbeitsfanatismus und Fortschrittswahn, vom Primat der Ökonomie und der Technik geprägte Zivilisation denunziert, die im Akt des Bergsteigens negiert und überwunden werden soll. Am Berg sucht man deshalb die Gefahr, um eine wahrhafte eigene Identität jenseits der Enge bürgerlicher Normalität zu erlangen: "Siegt mein Wille, meine Einsicht über elementare Widerstände, so offenbart sich das Göttliche in meinem Wesen: da schwindet alles niedrig Eitle, das enge Ich Eugen Guido Lammer verflüchtigt sich."

Das Aufgehen in einer größeren Einheit, das Sich-Auflösen in den Berg und in die Natur hinein, lässt Lammer einem "Übermenschen" gleich in eine größere Identität eintauchen. Getrieben vom Haß gegen alles Zivilisierte, alles Weibliche, alles Triebhafte am eigenen Körper sucht er die Stählung des Körperpanzers am Berg. Darin ähnelt er den soldatischen Männern und ihren Wahnideen, die Klaus Theweleit in seinen grandiosen Analysen der "Männerphantasien" für uns entworfen hat. Im Kampf gegen den eigenen Körper wird durch das Erreichen des "Gipfelsiegs" für kostbare Momente eine grenzenlose Zufriedenheit, das moderne Wohlbefinden, das den Sport angeblich so schön machen soll, erreicht: "Bist du, Suchender, zu diesem Gipfel des Gottfindens gekommen, dann fühlst du dich jenseits von Gefahr, dem Sport, jenseits der Furcht, für Augenblicke auch erlöst von der Qual des Ichs, das dich freilich noch umkapselt."

Die Qual ist damit nicht an ihrem Ende, sie gebiert lediglich die nächste Herausforderung, man(n) bleibt eben "umkapselt". Ist der Rekord erreicht steht er im Sport schon wieder zur Disposition. Das "citius, altius, fortius" kennt kein Ende, es ist eine unendliche Geschichte männlicher Tugenden der Leistung und der Disziplinierung der Körper, die zugleich als "Belohnung" einen kurzfristigen Rausch, ein ekstatisches Erleben im "Gipfelsieg" versprechen.

Dies aber benötigt strukturell die Welt jenseits des Alltags, die der Sport durch seine "Eigenwelt" zu gestalten vermag. Lammer hat dies vor allen SporttheoretikerInnen nahezu lyrisch rein auf den Punkt gebracht: "Du hast einen brennenden Durst nach neuem, tief wühlendem Empfinden. Drunten im Tal, im Alltagsleben, mit seiner armseligen Plage und Dürre kommen die Sensationen nur getröpfelt, dort ist die Lust spießbürgerlich gezähmt und gedämpft, das Leiden kleinlich dumpf und gemein. Droben aber, wo die zügelfreien Elemente horsten, da stürzt ihr den schäumenden Becher in selig-tiefem Zuge hinab, in der kühnen Sportleistung."

Etablierung des Helden

Lammer bezeichnet sich konsequent als "Fessellosen", dem es immer wieder gelingt, gelingen muss, die eigene Alltäglichkeit zu verlassen, um auf den Bergen die eigentliche Bestimmung zu finden. Dabei taucht schließlich der Begriff des Helden auf, der außerhalb der Kontinuität des Alltags steht und sowohl schicksalsergeben als auch schicksalsüberlegen ist. Die Geburt dieses Helden beschreibt Lammer erneut in lyrischer Klarheit: "Wenn einer von den Müden, deren Tausende unter uns wandeln, (…) einmal entdeckt hat, welch unheimlicher Reiz der Gefahr innewohnt, so wird er zuerst vielleicht nur an der passiven Gefahr, an dem prickelnden Hasardspiel um Tod oder Leben Gefallen finden, bald aber wird er sicherlich die weit feineren Genüsse kennen und lieben lernen: die Besiegung der Gefahr durch eigene Kraft, eigene Erfahrung, eigene Geistesgegenwart, intelligente Kombination, nimmer ruhende Ausdauer und viele andere Seiten seines Ichs." 5

Der Held im Sport (und nicht nur dort) ist wach, er stellt sich Gefahren und überwindet sie, er findet sich und erweitert sein eigenes Ich. Gezeichnet wird darin das Bild eines exklusiven und extremen Individualismus; gezeichnet wird das Bild einer aus der Masse herausragenden Männlichkeit. Ehre und Ruhm, als bürgerliche Muster des starken Mannes, sind eben jenen vorbehalten, die sich unerschrocken den Gefahren stellen, sie förmlich suchen. Das Duell als bürgerliche Form der Wiederherstellung von Ehre und sozialer Identität, als Ausweis des Individualismus und der Männlichkeit, wird auf die Berge verlagert, in eine zivilisationsferne Natur, wo das Authentische des Helden noch zum Vorschein kommen kann: der bedingungslose Kampf mit urzeitlichen Gefahren und die Nähe des Todes. In diesem Kampf, im Duell mit einem personifizierten Gegner, dem Berg, wird der Held real.

Mit der Etablierung des Helden in einer zivilisationsfernen Natur, bzw. im Sport generell, der eine Eigenwelt in der Zivilisation formt, werden zugleich Gesundheit und Körper betont: Nur ein gesunder Körper ist fähig zu diesen geistigen, moralischen und körperlichen Höchstleistungen am Berg. Zugleich aber gesundet der zivilisationsgeschädigte Körper und wird wieder zu dem, was ihm am Schreibtisch fehlt: ein starker und gestählter, aufrechter und kampfbereiter Körper zu sein. Daraus resultiert in einer neusprachlichen Wendung die besondere Bedeutung von Gesundheit und Wohlbefinden, die der Sport biete, um vom Alltag zu "relaxen".

Aspekte von Zivilisationskritik, der radikale Individualismus und der Topos des Helden, der in Bergeinsamkeit zu sich findet, sind bei Lammer konsequent als ein kulturelles Bild entworfen und begleiten fortan das Bergsteigen aus der Ära der Eroberung der höchsten Gipfel hinaus. Diese eingelagerten Bilder treten heute in neuer Verpackung hervor, die Sprache ist weniger martialisch, den modernen Diskursen adaptiert, dennoch sind die Metaphern präsent, wie es schon der frühe Reinhold Messner formulierte: "Die Berge können uns mehr geben. Viel mehr. Sie können uns von der Angst vor dem Leben heilen, sie können aus uns Nummern wieder Menschen machen (für kurze Zeit oder auch für immer). Sie können uns aus diesem tierisch ernsten Leben zwischen dem Gestänge unpersönlicher Fabrikgebäude emporheben. Sie lassen uns an die Hilfsbereitschaft der anderen wieder glauben. Sie zeigen uns ein Leben, für das die Technik keine Zeit läßt, und sie stürzen uns in Wirrnis von Schwierigkeiten, durch deren Mitte wir uns wie Abenteurer durchschlagen. Sie stecken Kraft in unseren verhockten Körper und sparen uns die meisten Krankheiten. Sie lehren uns warten."

Kampf und Krieg

Dem Bergsteigen ist ein steter Kampf beigemischt, immer wieder ist in der Bergsteigerliteratur die Rede von "erbitterten Kämpfen", von einem "gefährlichen Spiel mit dem Gleichgewicht". Es ein Kampf auf hohem Niveau, der das Besondere des Akteurs betont: "Die Kräfte des Menschen angesichts des Todes sind unerschöpflich. Wenn scheinbar schon alles zu Ende ist, hat er noch immer Reserven, doch es bedarf eines starken Willens, sie einzusetzen."

Stark können nur wirklich besonders begabte und disziplinierte Männer sein - Helden eben. Damit wird der nächste Kontext deutlich: Es sind Männer, die sich auch in der größten männlichen Herausforderung bewähren, dem Krieg, da sie voller "Durst nach Todesgefahr" sind, Abenteurer, die das Fade der Zivilisation schmähen und lieber ins Feld ziehen, um dort eine partielle Zufriedenheit zu finden.

Der Heldenmythos am Berg hat in der Tat eine unmittelbare Nähe zum Krieg, zunächst eine allegorische: Berge werden "belagert", es gibt "Angriffspläne", es findet eine "Generalstabsarbeit" statt. Die Szenarien ähneln "Feldlagern" und die Berichte über Eroberungen und Besteigungen haben Anklänge von Kriegsberichterstattungen. Die ganze Bergsteigerliteratur ist voller militärischer Ausdrücke, wobei sich das vor allem auf die Zeit nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert: "Angriff und Endsieg", "Einkreisung", "verwundbare Stellen", "Nachschub", "Vorhut", "Festung", "Verteidigungsgürtel", "Schlacht um den Berg", "Blitzkriege", "Materialschlacht", "Gipfelsturm", "Zermürbungskrieg".

Doch es gibt auch Parallelen von Feldzügen und Expeditionen aus inhaltlichen Gründen: Der Berg muss eingekreist werden, um seine verwundbaren Stellen zu finden, er muss belagert werden, um den richtigen Zeitpunkt für seine Eroberung zu finden. Ersetzt man das Wort "Berg" durch "Feind", ergibt sich vielfach ein militärisches Feldszenario.

Auch in der Gegenwart schildert bspw. Jon Krakauer Szenen, die an Kriegsberichterstattungen erinnern: "Am Fuß des Berges, beim Aufstieg vom Basislager, waren sie an der Leiche von Liliane Barrard vorbeigekommen, dort, wo sie vor drei Wochen nach ihrem 3000-Meter-Sturz von den oberen Gipfelhängen gelandet war."8 Er beschreibt, wie beim Rückzug vom Gipfel tödlich erschöpfte Bergsteiger von ihren Kameraden liegen gelassen werden, um wenigstens die eigene Haut zu retten.

Bergsteigen in seinen extremen Varianten hat Ähnlichkeiten eines Mann-gegen-Mann-Feldzugs, es wird von kriegerischen Elementen durchzogen: "Der gesamte Charakter des extremeren alpinen Bergsteigens wird von jenem kriegerischen Element geprägt. Das Bergsteigen steht dabei zu den früheren Kampfweisen nicht bloß in einem Verhältnis des verharmlosenden Nachfolgerituals. Hier wird Kampf nicht bloß gespielt. Hier wird genauso ernsthaft, genauso wild und verbissen gekämpft, gesiegt oder verloren wie in jener Zeit, als der kriegerische Kampf noch zum Alltag der Menschen gehörte."

Der extreme Individualismus am Berg rekurriert dabei auf archaische Vorstellungen eines Duells, das durch eine Anthropologisierung des Berges ein Duell Mann-gegen-Berg ist. Die ritterliche Tradition ließ einen echten Krieger eben den Nahkampf suchen: "Der Edle gegen den Edlen; kauernd in Deckung zu gehen wie ein Bogenschütze war undenkbar. Selbst Tod und Niederlage waren dem geringsten Ehrverlust vorzuziehen."

Der Krieg ersetzte im Männlichkeitsbild die Jagd gegen Raubtiere und produzierte bzw. bestätigte zudem ein spezifisches männliches Verhalten, in dem es um den Beweis des Mutes und um die kühne Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod ging. Der Krieg als direktes Duell war ein "Sport" für harte Männer, die als Jäger unterbeschäftigt waren.

Das Duell mit dem Berg ist davon zwar weit entfernt, doch in seiner Grundstruktur enthält es Elemente dieser archaischen Kulturmuster. Es ist ein modernes Ritual, das sich neben anderen befindet, das Jagd, Krieg und die damit verbundenen Erfahrungen zu ersetzen scheint. Der Sport generell als Chance für Duelle spielt über das Bergsteigen hinaus eine große Rolle.

Setzte man im Krieg sein Leben aufs Spiel: - "Im Wortschatz des religiösen Militarismus war das "höchste Opfer des eigenen Lebens bringen" so bedeutsam, daß den Feind töten daneben fast in den Hintergrund trat" - so ist dies auch zentraler Bestandteil des Kampfes um den Gipfel, den Lammer als Opferrausch, als ekstatisches Toben dargestellt hatte, der ausschließlich auf das Ich bezogen war. Dieses kriegerische Element, das den Kampf mit dem Berg prägt und in seinen kulturellen Implikationen dem archaischen "Blutritual” nahe kommt, offenbart dem Subjekt Gefühle einer souveränen Kraft: "Es ist das Lebensgefühl des wilden Tieres oder des Steppenbewohners auf Büffeljagd.“ Der Krieg als "Erfahrungswelt sui generis" öffnet Männern "ein Reich der menschlichen Erfahrung, das vom Alltäglichen mindestens so weit entfernt ist wie das Heilige".13

Barbara Ehrenreich belegt in ihrem Buch über Blutrituale, über Kriegshandlungen in der menschlichen Geschichte, dass Kriege für bestimmte Bevölkerungsgruppen, die Mittel- und Oberschichten vor allem, eine Erlösung von Leere und Langeweile brachte. Es werden Gefühle aktiviert, die religiösen Charakter haben; es wird von einem Rausch gesprochen, in einem Kollektiv aufzugehen. Genau dies findet sich nicht nur auf einer allegorischen Ebene, sondern auf einer seelisch tiefen Erfahrungsdimension, auch im Bergsteigen. Das hat Eugen Guido Lammer für sich und seine modernen Nachfolger nahezu genial auf den Begriff gebracht; diese geistige und seelische Verwandtschaft dürfte der eigentliche Grund sein, weshalb seine Werke vom Vordenker der bergsteigerischen Diskurselite Reinhold Messner herausgegeben werden.

Der Kampf mit einer unberührten Natur, diese Auseinandersetzung mit der äußeren und der inneren Wildnis, ist es offensichtlich, der das Versprechen einer Befreiung von einer als banal empfundenen Zivilisation transportiert. Er wird zur großen Aufgabe, in der es keine Grenzen zu geben scheint. Die eingelagerte Eroberungslust ist sogar eine Vorstufe zum Krieg, jenem kulturellen Phänomen, das Männliches in seiner abendländisch tradierten Form in besonderer Weise zu betonen scheint. Die symbolische Bezwingung und Niederringung der Berggipfel kann als ein Ersatz für Kriegshandlungen, für Duelle auf Leben und Tod, vermutet werden.
Allmacht und Nationalismus

Das Bergsteigen als eine verdichtete Form männlicher Begegnungen mit Körper und Natur, männlicher Produktionen des Sports, gebiert seltsame Mischungen: Todessehnsucht, Verherrlichungen der Gefahr und einen "touch" Hybris des Übermenschen. Das klingt, als ob Menschen (Männer) aus ihrer Ohnmacht zur Allmacht wollten. Siegrist hat tatsächlich in seiner Analyse des Bergsteigens diesen Verdacht zum Ausdruck gebracht: Im Gipfelmoment wird "ein Gefühl der Allmacht" angestrebt.

Männlichkeit wächst am großen Berg aus ihrer Ohnmacht zu einer grandiosen Größe, die höchste Gipfel zu überragen scheint und somit durch nichts auf dieser Erde mehr überstrahlt werden kann. Die Grenzerfahrung schafft zudem das gesuchte Ich-Gefühl; es ist der Berg, an dem sich des Mannes Größe beweist: "Ja, der große Berg ist das Ziel. Wir müssen versuchen an ihm selbst zu wachsen."15 Diese Grenzerfahrung kann leicht zur Selbstüberschätzung werden: "Dass man die höchsten Punkte der Erde mit voller Sicherheit aus eigener Kraft betreten kann, (…) nährt den Glauben an die ungeheure Macht des menschlichen Willens, dem auch dort oben keine Schranken gesetzt sind."16

Aus diesem Glauben wächst eine gefahrvolle Selbstüberschätzung und somit wird eine problematische Einordnung in Ideologien möglich, die das Eigene, das man als stark und tapfer, als mutig und siegreich wähnt, dem Fremden, das man schwach machen will/muss um sich selbst zu erhöhen, als überlegen gegenüberstellt.

Es sind der Wunsch nach Befreiung aus Zwängen und die Suche nach Ursprünglichem, die das Bergsteigen der Mythologisierung des soldatischen Alltags so ähnlich machen. Das Heldische als das Männliche, das vielfach im modernen Leistungssport transportiert wird (paradigmatisch "Die Helden von Bern" im Fußball oder Boris Becker als "deutscher Heros"), aber im extremen Bergsteigen seine deutlichste Konturierung erfährt, "verkörpert" Werte und Tugenden, die notwendigerweise nicht nur im soldatischen Alltag von Bedeutung sind, sondern auch zur Identitätsbestätigung eigener Nationalität oder sogar eines anderen Nationen überlegenen Nationalismus dienen müssen. Der Held betont und belegt eben das Besondere, das Eigenartige, das Starke, indem er den Sieg über das als schwach empfunden Eigene oder das minderwertig und zugleich gefährliche Andere betont.

Konsequenterweise findet sich in der Bergsteigerliteratur ein mitunter enger Zusammenhang mit Nation und Volk, indem der Gedanke des Nationalismus auf den Bergsport übertragen wird. So hatte zwischen den Kriegen jede Bergsteigernation ihre Achttausender: "Es war als hätte in jenen Jahren eine Art stillschweigenden Übereinkommens bestanden, dass gewisse hohe Berge den Alpinisten bestimmter Nationen vorbehalten seien." Essenziell war dabei die Frage: Welcher Berg gehört zu welcher Nation? "Zunächst sind die politischen Großmächte an der Reihe: Großbritannien erhält den höchsten Berg, den Mount Everest, Frankreich reüssiert am ersten Achttausender, Italien schafft den zweithöchsten Gipfel, während Deutschland (dank einem Österreicher) endlich seinen Schicksalsberg Nanga Parbat bezwingt. Diese Auflistung ließe sich fortsetzen, und auch die USA, die Schweiz, Japan, Spanien, China, Indien, Pakistan und Nepal kommen auf ihre Rechnung!"

Offensichtlich waren Bergriesen dazu ausersehen, das Vaterland ins rechte Licht zu rücken und in die Reihe der großen Bergsteigernationen aufrücken zu lassen. Die Entdeckung des Unbekannten war dabei Bestandteil nationalistischer Expansionsstrategien; das galt in der Zwischenkriegszeit ganz besonders für die deutsche Bergsteigergeneration: "In Deutschland war unter dem Einfluss des Krieges und der harten Nachkriegszeit eine besonders entschlossene und anspruchslose Generation herangewachsen (…) Wir sahen eine Aufgabe darin, über die engen Grenzen unseres deutschen Vaterlandes hinauszustoßen."

Die Bestätigung der Männlichkeit am Berg war und ist zugleich eine "hommage" an die eigene Nation. Die Bergsteigerliteratur war und ist immer auch eine politische Literatur, die der eigenen Nation gewidmet zu sein scheint: "Letztlich will man immer wieder plausibel machen, dass gerade diese oder jene nationalen Eigenschaften genau die richtigen sind für die Erstbesteigung des betreffenden Achtausenders - mit der durchsichtigen Funktion nationalistischer Selbstbestätigung."20

Insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus galten die Berge als das soldatische, das nationale Übungsfeld an sich; sie waren der Ort des "Sonnenflugs des geläuterten deutschen Volkes". Rainer Amstädter hat diesen Zusammenhang grundlegend aufgearbeitet und die Involviertheit des Deutschen Alpenvereins (DAV) in den Nationalsozialismus und eine bis heute kaum wirklich aufbereitete Tradition wirrer Gedanken belegt. Es war zwar die gesamte Leibeserziehung, die als Übungsfeld galt, doch das Bergsteigen war aufgrund seiner Betonung gewisser Tugenden besonders anfällig: "Den Bergsteiger wie den Krieger macht allein das innere Erlebnis des Kampfes aus."21 Ihren Ausgangspunkt hatte dies vor allem auch darin, dass Bergsteigen traditionell als Anklage gegen alles Bürgerliche galt: "Ohne Schwierigkeiten lässt sich das Bergsteigen als Lebensform scheiden von allem, was wir bürgerlich nennen (…) Die Gefahr wird nicht gemieden, sondern aufgesucht und überwunden. Die Gefahr ist die Grenze zwischen Leben und Tod, ihre Überwindung ist die Tat, der Kampf. So stellt sich das Bergsteigen als eine Lebensform dar, deren Wesen der Kampf ist." 22

Die Gestalt des verwegenen Bergsteigers machte Bergsteigen zu einem Teil der totalen Mobilmachung. Gerade die kriegerische Weltanschauung des heroischen Nationalismus des Nationalsozialismus forderte die Züchtung des kämpferischen Typus zu dem das Bergsteigen einen zentralen Beitrag zu leisten hatte. Es wurde zu einer "Lebensform des Kampfes", zu einer "Erziehung des neuen Geschlechts" stilisiert.

Der DAV war nun nicht nur ideell, sondern vor allem auch personell tief in den Nationalsozialismus verstrickt. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist bis heute kaum wirklich vollzogen, Amstädter tituliert diese Nachkriegsgeschichte als ein "Vergessen und Verdrängen" bzw. als ein "Abwälzen der Verantwortung" und zitiert u.a. einen Nachkriegsfunktionär: "Der Alpenverein braucht sich dieser Geschichte nicht zu schämen. Man muß auch manche Stellen seiner Geschichte nicht hinwegschweigen. Es gibt nichts, über das nicht geredet werden kann. Die Sünden unserer Väter sind nicht tabu. Allerdings sind sie auch nicht von drängender Aktualität. Dem Historiker sind sie Stoff, den Gegenwärtigen Exempel, den Nachgeborenen aber nicht Schuld. Sie sind ein Kapitel Vergangenheit. Aber sie sind nicht tradiert."23
Und jetzt?

Tradiert wird allerdings der Kontext männlicher Tugenden, das Heldenhafte, das Kämpferische, das Zivilisationskritische, das durchaus eine gewisse Nähe zu Kriegsgeheul und der besonderen Betonung des Nationalen hat. Solange dieser Kontext des Leistungssports, der in modernen Sprachregelungen hinter Begriffen wie Leistung, Rekord, Wohlbefinden, Abenteuer und Erlebnis zu verschwinden scheint, nicht prinzipiell aufgearbeitet wird, sind solche Missbrauchsversuche noch immer denkbar.

Die nationale Bergbegeisterung hat sich gelegt. Es bleibt aber die Anfälligkeit der darin involvierten und transportierten Tugenden, da sich dahinter immer auch eine Betonung traditionaler Männlichkeit verbirgt. Diese sehe ich als zentralen Grund für die ungebrochene Überhitzung des modernen Sports, die allerdings im angedeutet modernen Gewand daherkommt.

Männliche Tugenden werden im Leistungssport eben besonders gefordert und gefördert, auch wenn dieser von Frauen ausgeübt wird. Das Beispiel des Bergsteigens zeigt exemplarisch Entstehungsgeschichte und Kontexte auf.
Anmerkungen

1) Lammer, zit in: Günther, Dagmar: Alpine Quergänge, Frankfurt am Main 1996, S. 172

2) Messner, R./Höfle,H (Hrsg.): Eugen Guido Lammer. Durst nach Todesgefahr, Augsburg 1999, S. 18

3) ebd., S. 19

4) ebd., S. 37

5) Lammer in: Günther, a.a.O., S. 75

6) Messner, Reinhold: Everest. Expedition zum Endpunkt, Frankfurt 1979, S. 10

7) Herzog, Maurice: Annapurna: der erste Achttausender, in: Uitz, Martin/Salkeld, Audrey (Hg.): Der Berg ruft, Salzburg 2000, S. 169

8) Krakauer, Jon: Auf den Gipfeln der Welt, München 1999 S. 247

9) Aufmuth, Ulrich: Zur Psychologie des Bergsteigens, Frankfurt am Main 1988, S. 167

10) Ehrenreich, Barbara: Blutrituale, München 1997, S. 216

11) ebd., S.27

12) Aufmuth, a.a.O., S. 22

13) Ehrenreich, a.a.O., S. 21

14) Siegrist, Dominik: Sehnsucht Himalaya, Zürich 1996, S. 145

15) Hermann Buhl zit. ebd., S. 159

16) Paul Bauer, zit ebd.

17) ebd., S. 293

18) ebd., S. 293

19) Bauer, zit. ebd., S. 293

20) ebd., S. 297

21) Amstädter, Rainer: Der Alpinismus, Wien 1996, S. 445

22) O.E. Meyer zit ebd., S. 446

23) Helmut Zebhauser zit ebd., S. 559
Prof. Dr. Ronald Lutz ist Soziologe und lehrt an der University of Applied Sciences FH-Erfurt Soziologie besonderer Le

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