Dienstag, 8. Juni 2010

Titelblatt Masterthesis

Zürcher Hochschule der Künste Master of Arts in Art Education Vertiefung publizieren & vermitteln HS-09-10

Bergtod


Überblick



Meine Masterthesis befasst sich mit der Kulturgeschichte des Todes im Alpinismus. Das Ziel der Arbeit ist ein Buch, das sich an ein Zielpublikum richtet, das sich für geschichtliche und heimatkundliche Fragestellungen interessiert. Es besteht aus sechs sich ergänzenden Kapiteln und einem reichhaltigen Bildteil. Diese Masterthesis beinhaltet das erste Kapitel davon mit der Aufarbeitung eines realen Lawinenunglücks auf drei Ebenen: Meine eigene Erinnerung als Retter, Aufarbeitung der Presseberichte und der Gerichtsentscheide von damals, und einem Interview mit Betroffenen 26 Jahre danach.
Das Buch soll in einem Verlag erscheinen, der mit historisch-literarischen Publikationen mit einem wesentlichen Bildteil Erfahrung hat. Ich stelle mir den Berner AS Verlag vor.

Die Relevanz des Themas ist angesichts der zahlreichen Bergunfälle mit einer entsprechend ausführlichen Medienberichterstattung gegeben. Im Laufe dieser Arbeit habe ich festgestellt, dass im Bergsport das Risikobewusstsein zwar ausgesprochen vorhanden ist. Doch führt dieses Bewusstsein nicht dazu, dass auf immer höhere Schwierigkeiten verzichtet wird. Das oft erreichte Flowerlebnis beim Klettern wiegt für Bergsteiger die Todesgefahr auf. Mein persönlicher Zugang ergibt sich durch eine jahrzehntelange alpinistische Tätigkeit als SAC- Tourenleiter und Eigenerfahrung in der Bergung von Unfallopfern, sowie auf reichhaltiges Material, das ich in den Archiven von Alpenvereinen und in Bibliotheken gefunden habe. Unfälle werden meist als unerwartet, unabwendbar und nicht selbstverschuldet zur Kenntnis genommen. Der Alpinismus als Feizeitbeschäftigung oder als Beruf (Bergführer, Extrembergsteiger) wird durch Unfälle nicht in Frage gestellt. Die Gestaltung der Grabmale geht ausgesprochen auf die Thematik des Bergtodes ein. Neben dem Schmerz und dem Hinweis auf den Verlust drücken die Formulierungen auf Todesanzeigen und Grabsteinen oft ein Verständnis für das Schicksal der Verunfallten aus. Das Bergsteigen als Solches wird kaum in Frage gestellt.

Der Fokus der Arbeit liegt auf dem Tod von Alpinisten in den Bergen. Mit der Vermeidung und dem Suchen nach dem Tod, verbunden mit einer hohen Risikobereitschaft. Und damit, was geschieht, wenn er eintritt. Ich zeige, was Menschen, die von alpinen Todesfällen betroffen waren, darüber zu sagen haben, wie sie ihrer Toten gedenken und wie diese Todesfälle ihr Leben verändert haben. Damit werden die Prinzipien des Lebens und Sterbens in den Bergen einander gegenüber gestellt. Ich lasse dabei Hobby- und Extrembergsteiger, Bergführer, Hüttenwarte, Rettungsleute, Hinterbliebene und Überlebende zu Worte kommen.

In den europäischen Bergregionen, die seit zweihundert Jahren zu einem erheblichen Teil aus dem Tourismus leben, hat sich in dieser Zeit eine spezielle Art des Umgangs mit dem Tod von Bergsteigern, einheimischen wie Gästen entwickelt. Ich habe auf meiner Recherche Grabmäler und Marterln (Stehlen oder kleine Altäre, die zum Gedenken an Verunfallte errichtet werden) gefunden, die von einer eigenständigen Ikonographie des alpinen Todes zeugen. Neben diesen Manifestationen der Auseinandersetzung mit dem alpinen Tod befasst sich meine Recherche mit Gerichtsurteilen, tradierten Geschichten, malerischen Darstellungen und der literarischen Reflexion.
Fragestellung
• Warum nehmen Menschen in der Freizeit beim Bergsport ein so hohes Risiko in Kauf?
• Wie hat sich die Wahrnehmung und die Darstellung des Todes in der Geschichte entwickelt?
• Wie ist die Selbstwahrnehmung im Umgang mit dem Risiko?
• Wie verarbeiten Bergsteiger und ihre Angehörigen Todesfälle?
• Welche Rituale im Umgang mit dem Tod sind im alpinistischen Umfeld bekannt?
• Wie unterscheiden sich diese Rituale von üblichen Totenritualen?
• Wie werden Bergunfälle in den Medien kommentiert?
• Wie wird die Schuldfrage vor Gericht beurteilt?
Methode
• Interviews mit durchschnittlichen und extremen Bergsteigern, Unfallüberlebenden, Hinterbliebenen, Alpenclubverantwortlichen, Pfarrern, Rettungsleuten. Befragung bezüglich Fremd- und Selbstreflexion, Frage nach Konsequenzen in Folge von Unfällen.
• Dokumentation von Gerichtsurteilen bei Bergunfällen.
• Analyse eines Fallbeispieles auf allen Ebenen: Betroffene, Medien und Gericht. (Kapitel 1 des Buches)
• Fotografische Dokumentation von Unfallorten und Bergsteigergräbern in der Schweiz, Österreich und Frankreich. Bilder von zahlreichen Bergtouren und Wanderungen in den letzten Jahrzehnten.
• Symbolanalyse der Ikonographie von Bergsteigergrabsteinen.



Die Masterthesis ist in drei Teile gegliedert:

• Eine begleitende Theoriearbeit, die unter dem Titel „Leidenschaft zwischen Eros und Thanatos“ den diskursiven Hintergrund meiner Recherche und meines Schreibens ausleuchtet. Ich orientierte mich dabei sowohl an sozialwissenschaftlichen Annäherungen ans Thema, wie auch an literarischen und psychologischen Auseinandersetzungen mit dem Tod.

• Eine Liste mit Literatur, die im Zentrum meiner Forschung gestanden ist. Es sind Texte aus Soziologie, Psychologie, Geschichtsforschung und Literatur, die Einblick in die Hintergründe des Bergsteigens geben, aber auch das Umfeld betrachten, in dem der alpine Tod steht. 

• Das Fragment des anvisierten Buches „Bergtod“ in sechs Kapiteln. (siehe Inhaltsverzeichnis)
Das Buch enthält Texte und Bilder, die ich im Rahmen der Feldforschung geschrieben und fotografiert habe. Darin befinden sich Legenden, Dokumentarberichte, Interviews, Fallbeispiele, eine Meditation und eine Bilddokumentation von Unfall- und Gedenkorten. 

Konzept des Buches


Es ist in 6 Kapitel gegliedert, die je mit Farbbildern illustriert sind.

Kapitel 1 zeigt die Realität des Bergtodes in seiner Tragweite für die Familien und die an der Rettung oder Bergung Beteiligten. Es soll aufwühlen und am Schluss versöhnlich enden.
Das Erste Kapitel liegt in der Masterthesis vor.

Kapitel 2 ist die nachdenkliche Geschichte einer Wanderung, eine Meditation und Spurensuche.

Kapitel 3 zeigt die bildliche Auseinanderssetzung mit der Realität des Bergtodes. Die Inschriften auf Grabsteinen werden den Leser erstaunen.

Kapitel 4 zeigt auf, dass der Bergtod in manchen Fällen von den Opfern gar nicht so sehr vermieden wird. In zwei Geschichten gehe ich der Frage nach, ob da nicht eher der Tod gesucht wurde als die Freude an den Bergen.

Kapitel 5 zeigt den Berufsalltag der Bergretter und soll auf die Problematik hinweisen, dass sich Menschen in der professionellen Bergrettung in ihrem Leben hunderte von Schwerverletzten und Toten ansehen müssen. Ich zeige auf, wie diese Menschen dem Leiden begegnen und wie sie selber über den Alpinismus denken.

Kapitel 6 Sinn und Sarkasmus. Der Extrembergsteiger und Mediziner Oswald Oelz hat ein Interview zugesagt, das ich daraufhin fokussieren will, wo sich im Alpinismus Sigmund Freuds Grundprinzipien Eros und Thanatos begegnen. Ich reflektiere damit die Begleitende Theoriearbeit in einem Gespräch mit einem witzigen, scharfzüngigen und sehr sensiblen Menschen.

Das Buch richtet sich an ein historisch, heimatkundlich und alpinistisch interessiertes Publikum, das sich gerne mit philosophischen Fragen nach den Hintergründen des Bergsteigens befasst.

Das Buch soll als mittelgrosser Vierfarbendruck im Querformat erscheinen.
Als Verlag ist der AS Verlag ideal, da er Bücher im Zusammenhang mit Kultur und Alpinismus herausbringt.


Selbstreflexion

Am Anfang der Themensuche dachte ich an eine philosophisch-essayistische Sozialanalyse im Kunstdiskurs. Ich stellte mir damals einen Text unter dem Titel „Die Versuchung durch das Schöne“ vor. Im zeitgenössischen Kunstverständnis ist der Begriff des Schönen im Diskurs der Fachleute irrelevant geworden, anderseits fragt der Laiendiskurs im Bezug auf Kunst immer noch nach der Schönheit des Werks. Ich wollte des Spagat der beiden Kunstverständnisse aufzeigen.

Später, aber immer noch in einer relativ frühen Phase der Entscheidungsfindung kreisten meine Ideen darum, mein persönliches Lebensthema vom Tod in den Bergen zum Thema der Masterthesis zu machen. Ich wurde als Alpinist mehrmals direkt damit konfrontiert und habe einige Situationen selber nur knapp überlebt. Die persönliche Relevanz war also gegeben. Da ich der Meinung bin, dass eine gesellschaftliche Relevanz durch die grosse Medienpräsenz des Themas „Tod in den Bergen“ gegeben ist, fing ich schon im Frühjahr 09 mit der Recherche an.
In einer ersten Phase meiner Arbeit begab ich mich in das Feld des Alpinismus, von dem ich mich vor Jahren zurückgezogen hatte. Das heisst, ich stieg auf Berge, besuchte Unfallorte, Grabstätten und sprach mit Leuten, die mich im Thema weiterbringen konnten. Ich erneuerte alte Kontakte zu Bergsteigerfreunden und las mich in die feldbezogene Literatur ein.

So entstand schnell eine grosse Sammlung an themenbezogenem Material, von Todesanzeigen über Predigten bis hin zu persönlichen Aussagen in Interviews. Hunderte von Fotos von Bergsteigergräbern und Gedenkstätten ergänzen die Sammlung. Das Niederschreiben von Gedanken und das Transkribieren von Interviews fällt mir dank einer reichlichen Erfahrung relativ leicht. Die Fokussierung auf Fragen, die im Hintergrund der Feldforschung stehen, nach übergreifenden Themen des Diskurses, fällt schwerer, da ich mich nicht immer leicht getan habe damit, Antworten, die zwar jeden Bergsteiger interessieren, aber nicht auf diese dahinter stehenden Frage Bezug nehmen, wegzulassen oder mit einer Nachfrage zu schärfen.

Den Wert und die Stellung der Begleitenden Theoriearbeit habe ich lange Zeit unterschätzt, ebenso den Aufwand, den es brauchte um sie zu schreiben. Ich habe noch nie eine vergleichbare Arbeit verfasst und war mit der Materialbeschaffung und dem Zuordnen und Verdichten zeitweise sehr gefordert. Da wäre in der Vorbereitung im Masterthesis – Kolloquium eindeutig hilfreich, wenn daran mehr gearbeitet würde, und Arbeitsweisen erarbeitet würden. Letztlich ist es aber eine sehr gute Erfahrung, da ich mir neue Techniken und Fähigkeiten erwarb.






Mein Dank geht an:

meine Familie, die mich während dem ganzen Studium tatkräftig unterstützt hat
die Dozenten der ZHdK
meinen Mentor Ruedi Widmer
meine Studienkolleginnen und Kollegen
Erika und Raimund Steinhoff
Corinna Steinhoff
Oswald Oelz
und viele nicht namentlich erwähnten Bergsteigerfreunde


Ein Teil der Bilddokumentation und ein Artikel über die Grabmalgestaltung bei Bergsteigern wird im Heft 12 / 09 der Zeitschrift „eternity, das VDT Magazin“ veröffentlicht.

Begleitende Theoriearbeit




Bergtod


Bergsteigen
Leidenschaft zwischen Eros und Thanatos

In einer Gesellschaft, die sich zunehmend gegen jedes Risiko versichert, scheint es unsinnig, dass gerade in der Freizeit gerne hohe Risiken in Kauf genommen werden. Dennoch erfreuen sich gefährliche Sportarten wie Gleitschirmfliegen, Bungee Jumping, River Rafting oder Base Jumping zunehmender Beliebtheit. Diese Trendsportarten erreichen nicht zuletzt auf Grund der häufigen tödlichen Unfälle eine grosse mediale Präsenz. Als älteste sportliche Betätigung im alpinen Raum nimmt der klassische Alpinismus, bei dem es darum geht, auf einen Berggipfel zu steigen, dabei eine Sonderrolle ein, weil die neuen Formen des alpinen Sports meist Neuinterpretationen des klassischen Bergsteigens sind. In den gut zweihundert Jahren seit den ersten Besteigungen in den Alpen haben sich spezifische Rituale und eine reichhaltige alpine Literatur entwickelt.
Diese Arbeit geht anhand wissenschaftlicher und literarischer Texte der Frage nach, wie insbesondere beim Alpinismus, die Lust am Leben und die lustvolle, sportliche Betätigung in der Nähe des möglichen Todes zusammenhängen. Ich beginne mit Elias Canettis ablehnendem Blick auf den Tod, betrachte, was Sigmund Freud gegen Ende seines Lebens über den Tod gesagt hat, beobachte die Sicht von Bergsteigern und wende zuletzt den Blick zurück in die Literatur, um zu erfahren, was Imre Kertész zum Verhältnis von Eros und Thanatos zu sagen hat.

Elias Canetti schöpft die Kraft für sein Werk zu einem grossen Teil aus dem Widerstand gegen den Tod. Canetti hat ein Leben lang seine Gedanken zum Tod zusammengetragen. Seine Erben haben sie 2003 in einem Bändchen herausgegeben. Canetti wehrt sich nicht gegen die Tatsache des Todes, sondern er hasst ihn aus tiefstem Herzen als den Feind des Menschen. Canetti transformiert seine Verzweiflung über den Tod in die Hoffnung, dass die Menschen, die er in seinen Texten beschreibt, so lange immer wieder auferstehen, wie jemand ihre Geschichten liesst.
Eine viel pragmatischere Stellung gegenüber dem Tod nimmt Sigmund Freud ein. Für ihn als Psychoanalytiker ist der Tod unverbrüchlicher Teil des Lebens. Er siedelt in „Das Unbehagen in der Kultur“ in der Nähe des lebensschöpfenden Triebes Eros den Todestrieb, Thanatos an. Obwohl er diese Idee in seiner Forschungsarbeit anfänglich mehrere Male verwirft, gelangt er zur inneren Überzeugung, dass es keine andere Möglichkeit geben könne, als die, dass Eros und Thanatos systemisch zusammengehören. Freud vermutet, dass zwischen den beiden anscheinend so unterschiedlichen Trieben eine untrennbare Verbindung besteht, und dass beide immer nur in der Beziehung zum andern bestehen können, sie sich also gegenseitig bedingen. Während Freud den Eros als das Prinzip des Zusammenfügens zu immer komplexeren Systemen versteht, bezeichnet er Thanatos als das Prinzip der Dekonstruktion, als die Rückführung des Lebens in seine anorganische Vorstufe.
In „Geschichte des Todes“ bestätigt Philippe Ariès die Nähe von Eros und Thanatos. Anderseits zeigt er einen eindrücklichen Aspekt auf, in der Veränderung der Sterbegewohnheiten in der westlichen Welt: Die Totenkulte werden laut Ariès in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend bescheidener. Die Trauer nimmt einen immer privateren Charakter an. Ariès bezieht sich auf den englischen Anthropologen Geoffrey Gorer 1905–1985 der feststellte: „....dass im 20. Jahrhundert die Trauer so tabuisiert wird, wie ein Jahrhundert davor die Sexualität.“ Mit Blick auf diese Unterdrückung der Wahrnehmung des Todes in der Öffentlichkeit ist auffallend, dass dem Tod, der unter den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, ein zunehmendes Interesse entgegengebracht wird. Katastrophenfilme, Mord und Totschlag füllen Kinosäle und Fernsehprogramme. Während seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Tendenz zum verborgenen Sterben im Spital beobachtet werden kann, zu einem heimlichen und der Öffentlichkeit entzogenen Sterben also, und der Tod und besonders das Sterben praktisch ganz aus dem öffentlichen Raum verbannt wurde, gleicht die Neugier des Publikums am öffentlichen Sterben in den Bergen der schauerlichen Lust beim Betrachten einer mittelalterlichen Höllendarstellung. Durch die Beobachtbarkeit wurde im 20. Jahrhundert das Bersteigen in manchen gut einsehbaren Routen zu einem modernen Totentanz. Ich beziehe mich da auf den Österreichischen Bergsteiger und Autoren Heinrich Harrer. Er beschreibt im Buch über die Eigernordwand, „Die weisse Spinne“ wie sich vor den Teleskopen auf der Kleinen Scheidegg jedes Mal, wenn sich Seilschaften in die Wand wagten, dichte Trauben von Menschen versammelten und den in den Anfängen erfolglosen Bergsteigern durch ihre Ferngläser beim Sterben zusahen. Bevor die erste Durchsteigung gelang, sind acht Bergsteiger vor den Augen eines neugierigen Livepublikums und der Journalisten der Weltpresse gestorben. Selbst der bis zu seiner Bergung 1959 über zwei Jahre tot in der Wand hängende Stefano Longhi war als Attraktion geeignet, bei guter Sicht Menschen scharenweise anzulocken. Genau das, was in dieser Zeit aus den privaten Räumen in Spitäler verlegt und medikalisiert wurde, erregte grösstes Interesse der Menschen, wenn es sich als Spektakel im alpinen Raum darbot. Rainer Rettner geht im Buch „Eiger, Tragödien und Triumphe“ soweit, dass er in ausführlichem Bildmaterial die zerschmetterten Körper derer zeigt, die am Eiger abgestürzt sind. Während die Meute der Schaulustigen darauf wartet, dass vor ihren Augen jemand aus der Wand stürzt und nach vielen hundert Metern, wo er sich überschlagend am Fels zerschmettert wird, zuletzt als blutiger Klumpen aus Knochen, Fleisch und Stofffetzen unter der Wand im Geröll tot oder sterbend aufschlägt, dabei ein voyeuristisches Bedürfnis nach Sensation und Grausen befriedigt, ist dieser Absturz nach Ansicht vieler Experten für den Stürzenden eine durchaus angenehme Erfahrung. Der deutsche Bergsteiger und Sicherheitsexperte Pit Schubert zitiert in seinem Buch “Sicherheit und Risiko in Eis und Fels“ den Schweizer Geologen und Alpenerforscher Albert Heim folgendermassen: „Die Abstürzenden erleben nicht etwa Todesangst oder andere schreckliche Empfindungen, auch keine Verzweiflung oder Pein. Der Abstürzende erkennt zwar sehr bald, dass dieser Sturz wohl mit dem Tod enden wird, doch er empfindet dies im Rahmen eines äusserst angenehmen Gefühls und einer ungeheuren Gelassenheit....Das Bewusstsein erlischt schmerzlos, kurz nach dem Moment des Aufschlagens, der höchstens noch gehört, niemals aber mehr schmerzend empfunden wird.“ Heim behauptet in seinem Text, der Abstürzende höre in der Zeit des Sturzes, die ihm hundertfach verlängert vorkomme, schöne Musik und erlebe wahre Glücksgefühle. Der gleiche Text wird auch in einem Artikel im Spiegel 41/1978 zitiert. Heim bezieht sich dabei auf eigene Absturzerfahrungen und Aussagen von Dritten. Wenn man diesen Aussagen glauben will, so kann man den Moment des tödlichen Absturzes als den gleichsam orgiastischen Höhepunkt des Bergsteigens bezeichnen, den letztlich jeder Bergsteiger unbewusst anstrebt. So wäre der tödliche Sturz der Ort, wo sich Eros und Thanatos lustvoll vereinen. Heute bietet die Internetplattform youtube die Möglichkeit, solche Unfälle auch zuhause in der guten Stube mitzuerleben. Trotz Albert Heims Versicherungen, dass der Absturz für den Stürzenden nur Freuden bereithalte und keinerlei Schmerz, ist die Angst und ihre Überwindung ein ständiges Thema im Alpinismus. So schreiben Philipp Felsch, Beat Gugger, Gabriele Rath im Vorwort zu „Berge, unverständliche Leidenschaft“ dass zu den wesentlichen Erfahrungen des Bergsteigers die Angst als ein fester Bestandteil des physiologischen Ausnahmezustandes (>Flow) gehört, in den man beim Bergsteigen kommt. Unfall und Tod behaupten ihren festen Platz im Sinnhorizont von Bergsteigern. So verbindet die Bestimmung zur Todesnähe Soldaten und Bergsteiger und es verwundert nicht, dass alpinistische Expeditionen in den Anfängen militärischen Eroberungszügen und Belagerungen glichen, bloss wurden keine Länder erobert, sondern Berggipfel. Im gleichen Buch beschreibt Paul Veyne in einem Artikel, dass der französische Alpenclub 1874 nach dem verlorenen deutsch - französischen Krieg von 1871 explizit gegründet wurde, um die Revanche gegen Deutschland vorzubereiten. Damit wird die militärische Bedeutung des Bergsteigens hervorgehoben und es erklärt auch, warum Expeditionen in den Himalaja lange Zeit militärisch organisiert wurden. Ranghohe Offiziere wurden zur Organisation herangezogen und diese bestimmten auch, wer wann eine Chance zum „Gipfelsturm“ bekam. Die Nazis stilisierten die Toten der beiden Besteigungsversuche von 1934 und 1938 am Nanga Parbat als Sinnbild für deutsches Heldentum und Opferbereitschaft und stellten sie ideologisch bei gleichbleibender Terminologie neben die Gefallenen von Stalingrad. Der Nanga Parbat gilt bis heute als der deutsche Schicksalsberg.
Eine junge Bergsteigergeneration um Reinhold Messner, mit einem neuen demokratischen Bewusstsein, definierte für sich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Alpinen Stil. Statt an den Bergen mit Hilfe von Hochträgern kilometerweise Fixseile anzubringen, bestiegen sie grosse Berge in einer kleinen Gruppe gleichberechtigter Bergsteiger. Aber auch die vermehrte Präsenz von Frauen in den schwersten Routen dürfte zur „Entmilitarisierung“ des Bergsteigens beigetragen haben. Frauen stiegen zu allen Zeiten auf Berge und leisteten dabei Erhebliches, doch die Genderfrage erhitzte in den Anfängen des Bergsteigens die Gemüter, und die Männer waren ob des weiblichen Eindringens in ihre Domäne verunsichert. Obwohl Lucy Walker schon sechs Jahre nach der Erstbesteigung als erste Frau auf dem Matterhorn stand, reichte das nicht, um den Frauen grundsätzliche Anerkennung unter den Bergsteigern zu sichern. Die Aufnahme im SAC wurde ihnen von 1907 bis 1979 verwehrt. Die erste Bergführerin der Schweiz, Nicole Niquille hatte anfangs einen schweren Stand in ihrem Beruf und musste lange um die Anerkennung durch ihre männlichen Kollegen ringen. Da Frauen in den Hütten nur etwa ein Viertel der Übernachtungen ausmachen, erscheinen sie auch in der Unfallstatistik seltener als Männer. Nachdem der SAC seit 1978 auch Frauen aufnimmt, haben sie sich ins SAC Clubleben integriert und gehören soweit dazu, dass sie in vielen Statistiken nicht gesondert aufgeführt werden.
Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt den Flow allgemein, und beim Felsklettern im Besonderen, als „positive Sucht“, im Gleichgewicht zwischen Anforderung und Fähigkeit. Bei Versuchen ergab sich, dass Personen, die auf ihre tägliche Glücksdosis verzichten mussten, mit Entzugserscheinungen reagierten. Der deutsche Soziologe Stefan Kaufmann beschreibt in seinem Artikel “Technik am Berg“ das Klettern in Mihaly Csikszentmihalyis Definition als Deep Play. Das heisst eine Tätigkeit, die intrinsisch motiviert, mit Selbstverwirklichung verbunden ist und tiefe Sinneserfahrungen ermöglicht. Ein anderes Stichwort dazu ist Sensation seeking. Ich verweise dafür auf die Arbeit „Flow-Erleben beim Lesen, ein EEG Experiment“.
Kaufmann differenziert Extremes und Nichtextremes Bergsteigen durch die bewusste Inkaufnahme der Todesgefahr bei den Extremen. „Für den Extremen konvertiert die Todesnähe zum Lebenselixier“. Kaufmann fährt fort, dass das Bergsteigen einen seiner Existenzgründe verlieren würde, wenn man die absolute Sicherheit einführen würde, wie dies beim Autofahren beispielsweise von fast allen Menschen begrüsst würde. Seit Berge bestiegen werden, gibt es Diskussionen darüber, welches die richtige Art ist, dies zu tun. Wer die Todesgefahr mit langen Reihen von Bohrhaken in rissfreiem Fels entschärft, stösst in vielen Kletterkreisen auf den Vorwurf des unethischen Kletterns. Wer die Todesgefahr also nicht in Kauf nimmt, gilt in der Szene als unethisch. „By fair means“ ist das dazugehörige Stichwort.
Die Leidenschaft des Bergsteigers kann auch als wahre Leidenschaft erlebt werden. Als Leiden, das durch die Bergsteigerei bekämpft wird. So beschreibt John Harlin jr. im Buch „Die Wand der Wände“, wie er vierzig Jahre nachdem sein Vater in der Eigernordwand tödlich verunglückt ist, sein Lebenstrauma des Vaterverlustes überwindet, indem er selber im Alter von 49 Jahren durch diese Wand steigt. Er beschreibt, dass er an genau dieser Stelle, wo sein Vater infolge eines durchgescheuerten Fixseiles abgestürzt war, erstmals für den Vater gar keine Gefühle mehr hatte. Jetzt war es seine Wand und mit jedem Schritt, den er weiter ging, machte er sich die Wand mehr zu eigen.
Im Bergsteigen kommt der Mensch sich selbst und seinen Gefühlen sehr nahe. Die Auseinandersetzung mit der Gefahr führt, wie vielfach versichert wird, zu grössten Glücksgefühlen. Todesgefahr kann aber nicht nur bei einigen Bergverrückten zu Glücksgefühlen führen. Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz ist als einer der letzten Auschwitzüberlebenden sozusagen ein Experte des Überlebens. Er erwähnt im Alter von 80 Jahren in einem Interview (im TA Magazin Nov. 09), dass es im KZ Auschwitz durchaus Glücksmomente gegeben hatte, wenn die absolute Todesnähe zu spüren gewesen ist. „Ich empfand die radikalsten Momente des Glücks in den Konzentrationslagern. Man kann sich nicht vorstellen, was es bedeutet, eine zehnminütige Pause einzulegen während der Arbeit. Sehr nahe am Tod zu stehen, ist auch eine Form des Glücks.“









Einführung ins Buch

Bergtod

Einführung ins Buch

Menschen stiegen zu allen Zeiten über Pässe und Berge. Für die Jagd und den Handel begaben sie sich schon in prähistorischer Zeit in unwirtliche Gegenden. Der am Tisenjoch auf dem Similaungletscher im Ötztal gefundene Jäger, von den Medien liebevoll „Ötzi“ genannt, legt dafür mit seiner im Eis konservierten Leiche Zeugnis ab. Gemsjäger und Kristallsucher bewegten sich zu allen Zeiten in diesem hochalpinen Gelände, doch war es keine alpinistische Tätigkeit im eigentlichen Sinne, da ihr Ziel nicht in der Tätigkeit selber begründet lag, sondern einem andern Zweck diente. Ihre Besteigungen führten nicht auf Gipfel oder Grate, sondern der Handel oder das Fleisch der Gemsen, Murmeltiere und Steinböcke lockte sie in die Höhe. Die Besteigung des Mont Ventoux durch den italienischen Dichter Francesco Petrarca im April 1336 blieb während Jahrhunderten ohne Nachahmung. Petrarca erlebte dabei eine Art Erleuchtung. Er sah von diesem Augenblick an die Welt nicht mehr mit den Augen des Mittelalters als eine feindliche, die nur dem Durchgang ins Paradies dient, sondern erkannte in ihr einen eigenen Wert. Die eigentliche Bergsteigerei als Massenbewegung, die Menschen aus purer Lust auf abenteuerliche Wege in alpinem Gelände führt, ist erst im 18. Jahrhundert entstanden. In der Malerei diente die Landschaft während Jahrhunderten nur als allegorischer Hintergrund und war nicht im eigentlichen Sinn Thema eines Bildes. 110 Jahre nach Petrarcas Bergbesteigung änderte sich dieser Blick auf die Welt. Die Auseinandersetzung mit der realen Landschaft setzte bei Konrad Witz und seinem Bild „Der wunderbare Fischzug“ von 1444 ein. Doch auch auf diesem Bild dient die Landschaft der Illustration eines biblischen Themas. Erst im 17.Jahrhundert nimmt die Landschaft als eigentliches Bildthema einen Raum ein, ohne historischen oder biblischen Themen einen Hintergrund zu bieten. Damals entwickelte sich auch ein wissenschaftliches Interesse an der Landschaft im Allgemeinen und an der Gebirgslandschaft im Speziellen. Gleichzeitig entstand in der Nachfolge zur Erstbesteigung des Mont Blanc im Jahre 1786 und Horace-Bénédict de Saussures wissenschaftlichen Experimenten auf dem Gipfel des Mont Blanc von 1787 ein eigentlicher Boom des Bergsteigens in den Alpen. Während de Saussure die gewagte Besteigung aus wissenschaftlichem Interesse unternahm, wurde das Bergsteigen in der Folge zu einer Freizeitbetätigung für reiche, wagemutige Engländer, die mit einheimischen Führern auf alle Alpengipfel stiegen. Die letzte grosse Erstbesteigung in den Alpen führte 1865 aufs Matterhorn, dem damals „letzten Problem in den Alpen“. Der Aufstieg gelang unter der Leitung des Schriftstellers und Malers Edward Whymper relativ leicht, doch stürzten beim Abstieg vier der sieben Tourenteilnehmer über die steile Nordwand in den Tod. Sie waren bei weitem nicht die ersten, die bei alpinistischer Tätigkeit ums Leben kamen, doch da mit dem Chamonixer Bergführer Michel Croz ein sehr bekannter Mann abgestürzt war, folgten in den Medien lange Polemiken über die Unfallursache und die Schuld. Whymper konnte sich ein Leben lang nicht vom Verdacht befreien, er habe das Seil, an dem die Kameraden hingen, durchgeschnitten. Das Seil ist heute im Matterhornmuseum in Zermatt zu bestaunen.

Während im modernen, alltäglichen Leben möglichst jedes Risiko vermieden oder doch wenigstens versichert wird, sucht der Alpinist genau dieses Risiko und lotet die Grenzen des gerade noch Machbaren mit gezieltem Training und einer sich ständig verbessernden Technik aus. Immer neue, schwierigere Routen werden erschlossen. Für die Spitzenkletterer gilt es, Routen nicht nur zu durchsteigen, sondern es wird darauf geachtet, sie schnell, in gerader Linie, mit wenig Material, ohne Vorbesichtigung oder im Winter bei vereistem Fels zu klettern. Künstlicher Sauerstoff beim Höhenbergsteigen stösst bei vielen Extrembergsteigern genauso auf Ablehnung wie die Verwendung von Bohrhaken, um glatte, rissfreie Wände abzusichern. Viele dieser Extremen, wie sie sich selber nennen, lassen bei Unfällen ihr Leben. Sie stürzen ab, werden von Lawinen verschüttet, verschwinden auf immer oder oft für Jahrzehnte in Gletscherspalten bis das „ewige“ Eis ihre Leichen wieder freigibt. Der Tod ist ihnen bei den immer höheren Schwierigkeiten ein treuer Begleiter. Kein noch so gutes Seil, kein noch so hartes Training und auch nicht die modernsten Wetterberichte vermögen das Risiko eines Absturzes, einer Lawine, eines lebensbedrohlichen Wettersturzes, eines Lungen- oder Hirnödems in grosser Höhe je völlig auszuschalten.
In den Bergen kommen aber nicht nur Extreme ums Leben, auch einfachen Bergwanderern kann ein Ausrutschen in steilem Gelände, ein Blitz- Stein- oder Eisschlag zum Verhängnis werden.
Der Tod von Bergsteigern hat in der Ikonographie der Friedhöfe seine besonderen Spuren hinterlassen. Ein gestalterisches Element, das auf fast allen Bergsteigergräbern eingesetzt wird, sind Seil und Pickel als Handwerkszeug der Bergsteiger. Oft ist der Pickel nicht nur als Relief in den Stein gehauen, sondern ein Pickel aus Bronze, eventuell mit einem Seil aus Bronze zieren viele Gräber.
Wie im Leben so im Tod bilden die Bergführer eine besondere Kategorie der Bergsteiger. Auch sie, die ersten Berufssportler überhaupt, sind trotz grosser Erfahrung im Umgang mit den objektiven Gefahren der alpinen Welt nicht davor gefeit, bei ihrem Beruf das Leben zu lassen. Auf ihren Gräbern ist die Berufsbezeichnung „Bergführer“ fast immer vermerkt, auch wenn sie im hohen Alter im Bett gestorben sind.
Pro Jahr kommen in den Schweizer Bergen zwischen 120 und 200 Menschen ums Leben. Dies war in den Anfängen des Alpinismus so und es ist heute nicht anders. Die Routen werden immer schwieriger, die Klettertechnik und das Training der Bergsteiger passen sich ständig den neuesten Bedürfnissen an, doch Unfälle mit tödlichem Ausgang geschehen mit grosser Regelmässigkeit.
Mit dem Wandel der gesellschaftlichen und spirituellen Bedeutung, die dem Bergsteigen unterlegt wurde und wird, hat sich auch der Umgang mit dem Tod im Alpinismus immer mit dem Zeitgeist verändert. Nach erfolgreichen Besteigungen liessen sich die frühen Bergsteiger als Helden feiern. Die Erstdurchsteiger der Eigernordwand wurden von Hitler persönlich begrüsst und als nationale Helden geehrt.
Bei einem der häufigen Abstürze wurden sie in romantischen Bergsteigergräbern beerdigt. Die Friedhöfe in Grindelwand, Zermatt oder Chamonix legen ein beredtes Zeugnis ab. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich Bergsteigergräber dem allgemeinen schlichteren Usus angeglichen. Vermutlich durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde der Heldenmythos deutlich entzaubert. Pragmatischere Deutungen des alpinen Tuns verdrängten die heldischen und soldatischen der Vergangenheit. Die heutige Freizeitgesellschaft bietet die Möglichkeit aus einer grossen Palette von mehr oder weniger gefährlichen Sportarten auszuwählen, in denen das Bergsteigen nur eine von unterschiedlichen Spielarten ist.

Seit jeher standen erfolgreiche Bergsteiger im Zentrum des öffentlichen Interessens. Zeitungen verfolgten ihr Tun und rissen sich um Exklusivinterviews. Schon die Erstbesteigungen des 19. Jahrhunderts waren Medienereignisse erster Güte. Spektakuläre Abstürze wie der bei der Erstbesteigung des Matterhorns lieferten während Jahrzehnten Stoff für Spekulationen. So wie auch das Verschwinden von Günther Messner in der Diamirflanke am Nanga Parbat nach 35 Jahren immer wieder für Schlagzeilen gut ist. Das Fernsehen berichtete schon in den 60er Jahren live von einer Bergung aus der Eigernordwand, und die Bergsteiger jener Generation, wie John Harlin, liessen sich gerne feiern wie Popstars. Wer den Rahmen des bis anhin Möglichen sprengte, fand den Weg in die Medien und erhielt dort oft mehr und länger Aufmerksamkeit, als ihm lieb war.
Die medialisierte moderne Welt, bietet nicht nur die Möglichkeit am Tun der Extremen teilzunehmen, indem man sie bei waghalsigen Besteigungen mit Fernrohren ins Visier nimmt, sondern auch das Internet bietet Plattformen, wo jedermann seine Filme und Bilder öffentlich zugänglich machen kann. So kann man heute zuhause in ungezählten Wiederholungen am Schreibtisch beobachten, wie ein Bergsteiger mit endlosen Überschlägen von einem Felsabsatz zum nächsten, über Eisfelder und Coulloirs bis an den Wandfuss fällt und zuunterst als blutiger Knäuel aus Knochen, Fleischteilen und Stofffetzen im Geröll aufschlägt. Hobbyfilmer halten ihre Handykamera oft erstaunlich ruhig auf Stürzende.

In diesem Buch gehe ich nicht nur dem Tod der Bergsteiger nach. Ich habe auch Antworten gesucht auf die Frage, warum Menschen überhaupt in diese Berge gehen. Warum sie, um auf einem Gipfel zu stehen oder durch eine Wand zu klettern, diese Lebensgefahr auf sich nehmen. Eine häufige Antwort auf diese Frage war, dass sich Bergsteiger nie so lebendig fühlen, wie wenn sie sich in der unmittelbaren Nähe des Todes bewegen. Das mag erstaunen, doch bei näherem Betrachten fand ich heraus, dass die beiden sich vermeintlich ausschliessenden Triebe des Menschen, der Lebenstrieb und der Todestrieb nicht nur ganz nahe beisammen liegen, sondern einander wie zusammengehörige und einander zudienende Grundprinzipien des Lebens sogar bedingen, somit einer der Triebe ohne den Andern nicht denkbar ist.
So wählt jedes der Kapitel seinen eigenen Blickwinkel und versucht, das Thema von möglichst vielen verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Im Kapitel 1 verfolge ich die Geschichte eines Lawinenunfalls vom Unfallzeitpunkt im Jahr 1983 bis heute. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wer dabei alles betroffen ist und wie ein schweres Unglück in den Medien behandelt wird. In den Kapiteln 2- 6 kommen durchschnittliche und extreme Kletterer zu Wort, aber auch Retter, Bergführer, Hinterbliebene und Opfer, die ihren Unfall überlebt haben. Ich bin auf einsamen Wanderungen in den Bergen auf Spuren von Unfällen gestossen und habe mich davon zu weiterführenden Gedanken leiten lassen. Weiteres Material stammt aus Archiven des DAV, SAC und OeAV und aus Bibliotheken.

Inhaltsverzeichnis

Bergtod

Inhaltsverzeichnis

• Einführung (fertig und abgegeben) ca. 5 Buchseiten
Leben und Sterben als Bergsteiger
Legendenbildung
Eros und Thanatos

• Kapitel 1 (fertig und abgegeben) 
Konstanz und das Chrüz ca. 45 Buchseiten
Dokumentarbericht
Was damals geschah
Wirkung über Jahrzehnte

• Kapitel 2 (fertig) 
Einsame Wanderung zu zweit: ca. 12 Buchseiten
Was ist mit Max Bietenholz geschehen?
 Eine Meditation

• Kapitel 3 (fertig) 
Der Bergtod in der Welt des Gedenk- und Grabmals
ca. 35 Buchseiten
Bilddokumentation von Unfall- und Gedenkorten

• Kapitel 4 (fertig) 
Suizid und Bergtod ca. 20 Buchseiten
Ein prophetischer Traum: Fallbeispiel nach einem Lawinenunfall
Todesursache Parkinson oder Bergsteigen: Fallbeispiel eines Absturzes

• Kapitel 5 (in Arbeit)
Die Bergretter von Zermatt ca. 40 Buchseiten
24 Stunden Begleitinterview bei der Arbeit von Bruno Jelk, Bergretter von Zermatt

• Kapitel 6 (in Arbeit) 
Sinn und Sarkasmus ca. 12 Buchseiten
Interview mit Oswald Oelz, Extrembergsteiger und Buchautor
Zürcher Hochschule der Künste
Master of Arts in Art Education
Vertiefung publizieren & vermitteln

HS-09-10









Kapitel 1

Konstanz und das Chrüz


Das Lawinenunglück am Chrüz bei St. Antönien
vom 27.2.1983
und andere Unfälle

Der Bruder meiner damaligen Freundin wollte am 27.2.1983 auf dem Gipfel des Chrüz im Prättigau seine Verlobung bekannt geben und lud zu diesem Zweck die Familie seiner Verlobten und seine eigene zu einer Skitour ein. Beide Familien waren den Bergen sehr verbunden, auch die älteren Semester waren geübte Skitourengänger. Niemand von uns konnte ahnen, was der Tag bringen würde.
Der Tag war für die Jahreszeit warm, dunkle Wolken hingen tief an den Bergspitzen und liessen schwere, grosse Schneeflocken fallen. Wir fuhren ein Stück mit dem Skilift und verliessen ihn, bevor wir die Bergstation erreicht hatten. Dann bogen wir südlich ab, in Richtung Wald. Nach wenigen Metern Aufstieg entledigte ich mich meines Pullovers, allein die Windjacke gab warm genug. Der nasse Schnee hinterliess auf der Jacke dunkle Spuren, unter den Tragriemen meines Rucksacks wurde es bald feucht bis auf die Haut. Die Bäume standen locker in diesem Wald. Man konnte ihn sowohl im Aufstieg wie in der Abfahrt problemlos durchqueren. Danach folgten einige Meter Abfahrt, allerdings lohnte es sich nicht, die Steigfelle von den Skiern zu nehmen, wir rutschten mit den Fellen hinunter in eine Senke, um dann wieder aufzusteigen. Der Schneefall wurde hier oben stärker und es wehte ein heftiger Wind. Je höher wir stiegen, desto tiefer lag der schwere Neuschnee.
Bei der Alp Valpún trafen wir auf eine fröhliche Gruppe deutscher Skitourengänger, die wir vorher schon von weitem beobachtet hatten, wie sie in Einerkolonne eine Spur durch den Wald zogen. Wir setzten uns in den Windschatten der Alphütte und plauderten miteinander, machten Scherze und sprachen kurz über die Route. Dann stiegen die Deutschen, die sich für den Westgrat entschieden hatten, im dichten Nebel und Schneefall weiter. Auch wir brachen kurz danach auf.

Die Lawine

Die Route liess zu, dass wir uns entweder auf Gelände bewegten, das weniger als die für Lawinen kritischen 30 Grad steil war oder auf einer vom Wind schneefrei gehaltenen und von der Wärme etwas aufgeweichten Eislamelle. So bestand keine Gefahr für uns. Der Neuschnee war mit der Unterlage nicht verbunden, sobald ein Hang über 30 Grad steil war, rutschte er auf der eisigen Unterlage weg. Als wir auf dem weitgehend neuschneefreien Nordostgrat etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, sah unser vorderster Mann, es war Andy, der sich verloben wollte, durch den aufreissenden Nebel, dass am Gipfel eine Lawine niedergegangen war. Er ging etwas näher an den Gratabbruch und sah jemanden mit einer roten Jacke, dessen Beine in einem riesigen Lawinenkegel steckten, um Hilfe rufen. Von seinen Kameraden sahen wir keine Spur. Sofort versuchten wir zu ihm hinunter zu fahren, was aber in den steilen Hängen nicht ging, da diese sofort anfingen wegzurutschen. Sie drohten auch uns zu verschütten. Wir mussten eine kleine Strecke zurück abfahren und dann wieder aufsteigen. Dabei ging wertvolle Zeit verloren. Wir schickten zwei gute Skifahrer ins Tal, um Hilfe zu organisieren. Von unserer Gruppe waren einige nicht in der Lage, sich um die Verletzten zu kümmern, sie waren zu sehr geschockt und brauchten selber Betreuung. Als ich zur Unfallstelle kam, hatte der erste, der sich selbst befreien konnte, schon einen weiteren Kameraden soweit freigelegt, dass dieser atmen konnte und bei einem zweiten hatte er angefangen den Kopf auszugraben. Bald fanden wir mit den Verschüttetensuchgeräten VSL weitere Verschüttete und gruben sie mit den Lawinenschaufeln, die zu jeder Skitourenausrüstung gehört, aus. Nur die ersten hatten noch eine spontane Atmung, die nächsten hatten schon Herz- und Atemstillstand. Sie hatten den schweren Schnee in Nase und Mund gedrückt, so war ihnen kein einziger Atemzug möglich. Einen Mann, bei dem anfänglich keine Spontanatmung mehr festzustellen gewesen war, konnten wir ins Leben zurückbringen. Er fuhr am Abend sogar mit dem Auto heim nach Konstanz.

Beatmen bis zur Erschöpfung

Das Beatmen der Toten und der tief ohnmächtigen Personen gestaltete sich unvorstellbar schwierig, da ihre schlaffe Gesichtsmuskulatur dem Druck der haltenden Hände auswich und keinen Widerstand gab. Ich versuchte, ihnen den Kiefer vorzudrücken und die Lippen aufeinander zu pressen, damit die Luft nicht durch den Mund entweichen konnte, wenn ich Luft durch die Nase in den Körper blies. Doch es war viel schwieriger als im Erste Hilfe Kurs, wo ich an einer Puppe geübt hatte. Ausserdem wurden ihre Körper von der Last des Schnees zusammengepresst, so dass kaum Luft in den Brustkorb eindringen konnte, bevor dieser freigelegt war. Wir konnten uns im klumpigen Lawinenschnee nicht richtig hinknien, ich bekam in einer meist verdrehten Lage selber kaum Luft. Ausserdem kam man sich ständig mit dem Kollegen, der Herzmassage machte, mit den Beinen in die Quere. Die Verschütteten mussten ja mit Luft versorget werden, als sie noch tief in ihren Löchern unten im Schnee festgehalten wurden. Wir mussten kopfunter beatmen, das Blut schoss uns in den Kopf und wir mussten acht geben, nicht selber ohnmächtig zu werden. Wenn ein Kollege dann für die Herzmassage dreimal nacheinander kräftig auf den Brustkorb des Verunfallten drückte, spritzte mir dessen Mageninhalt ins Gesicht. Nach kurzem musste ich mich gegen heftigen Brechreiz wehren. Wir wechselten uns ab so gut es ging, als ich einmal einem Verunfallten für die Herzmassage kräftig auf den Brustkorb drückte, knackte es unter meinen Händen, als ob ich einen Bund Reisig zerbrochen hätte. Ich muss ihm die Rippen gebrochen haben. Als ich es später dem Notarzt sagte, meinte er, das sei das kleinste Übel, das passieren könnte und ich solle mir deswegen keine Gedanken machen.

Der letzte Verschüttete

Wir hatten vier Personen zu versorgen, bis jemand rief, einer fehle noch. Ich stand auf und übergab meinen Platz einem Kameraden. Das Beatmen strengte mich sehr an, ich brauchte eine Pause. Mit dem VSL war schon gesucht worden, ohne Erfolg. Die Deutschen hatten VSL des Systems Pieps, das auf einer andern Frequenz arbeitete, als das Schweizer Barryvox. Nur einzelne hatten das neueste Doppelfrequenzgerät. Daher mussten wir mit ihren Geräten suchen. Pieps war auch nicht so zuverlässig wie Barryvox. Da ich im Lawinenschnee nicht richtig gehen konnte und ständig in Löcher einbrach und stürzte, wurden mir auch die Ohrhörer, die zum Pieps gehören, immer wieder aus den Ohren gerissen. Wenn ich wieder stand, hatte ich die Richtung verloren, in der ich gesucht hatte und die Ohrhörer waren voll Schnee und gaben kein klares Zeichen mehr her.
Ich war mir sicher, dass an einer Stelle noch eine Person lag und fing rein von der Intuition gesteuert an zu graben. Bald stiess ich in der Nähe von jemandem, der zwar noch grösstenteils verschüttet war, aber selbstständig atmete, auch auf einen Skischuh, ich dachte, der müsste zu ihm gehören, dann müsste er aber das Bein sehr schmerzhaft verdreht haben. Doch bald zeigte sich, dass es die noch gesuchte Person war. Sie steckte mit dem Kopf nach unten im Schnee, der Kopf war sicher zwei Meter tief verschüttet, die Nasen- und Mundhöhlen mit Schnee voll gestopft. Ohne grosse Hoffnung auf Erfolg versuchten wir sie zu beatmen und das Herz wieder in Gang zu bringen. Der Bruder der Braut, Matthias, stand am Anfang seines Medizinstudiums und forderte uns auf, alles Mögliche zu versuchen, sonst hätten wir uns vielleicht schneller mit dem Tod der Verschütteten abgefunden, so gaben wir alle unsere letzten Kräfte her.
Matthias stürzte im Juli 2009 am Sustenlochspitz beim Klettern tödlich ab.

Das lange Warten auf den Helikopter

Erst nach zwei Stunden kam der Helikopter langsam durch den Nebel. Sofort sprang ein Regaarzt aus der Maschine und kam zu uns. Er sah, dass es viel mehr Verletzte gab, als er erwartet hatte und begann hektisch mit Untersuchungen. Bei zwei Verschütteten sah er noch Hoffnung auf Rettung, da ihre Pupillen noch auf das Licht seiner Taschenlampe reagierten. Seine Versuche zur Reanimation mit einem Defibrillator zeigten aber keine Wirkung, obwohl sich die Patienten unter dem Stromstoss aufbäumten und die eine danach einen spontanen Atemzug andeutete. Der Arzt intubierte die Personen, die auf der Unfallstelle verblieben, so konnten wir sie mit einem Blasbalg beatmen, was eine wesentliche Erleichterung darstellte.
Die beiden Opfer, bei denen noch eine gewisse Hoffnung auf Rettung bestand, wurden in den Helikopter verladen und der Arzt flog mit ihnen ins Spital Schiers. Dort wurde später allerdings nur noch ihr Tod festgestellt.

Wir waren wieder allein auf der Unfallstelle und mussten versuchen, die verblieben Opfer, soweit es unsere Kräfte erlauben, weiter zu beatmen. Matthias hatte uns gesagt, dass bei guter Beatmung und einer minimal durch Herzmassage aufrecht erhaltenen Blutzirkulation Personen auch nach mehreren Stunden gerettet werden könnten. Also setzten wir unsere letzten Kräfte frei. Ein weiterer Heli kam über die Krete geflogen und mit ihm ein Arzt aus dem Tal. Er war ruhig, was auch uns eine gewisse Sicherheit und Ruhe zurückgab. Er trug eine beige Manchesterhose, eine schwarze Leinenwindjacke und Militärschuhe. Er fragte auch, wie es uns gehe, dann wurden die Personen, die wir bis dahin unter Aufbietung unserer ganzen Kräfte beatmet hatten, auf Bahren in den Helikopter geladen. Der Heli vom Typ Alouette 3 hatte zwei Halterungen für Bahren, einige Mitglieder unserer Gruppe flogen noch mit hinunter, einige fuhren mit den Ski ins Tal. Dann kam der Heli ein drittes Mal, wir luden den letzten Toten ein. Inzwischen hatte der Arzt das Zeichen gegeben, mit Beatmen aufzuhören, da keine Aussicht mehr bestand, ihn zum Leben zurück zu holen. Ich stieg ein und kam zu meinem ersten Heliflug. Das Wetter hatte sich in der Zwischenzeit soweit gebessert, dass der Pilot normal auf Sicht fliegen konnte und sich nicht mehr wie beim ersten Anflug mit Hilfe eines Bauern aus der Gegend von Baum zu Baum tasten musste. Auf dem Parkplatz von St. Antönien landeten wir. Eine Menge Leute stand dort und schaute uns betreten zu, wie wir den Toten ausluden und ins Hotel Weisses Kreuz hinüberbrachten. Ein dicker Mann in einer jagdgrünen Heli Hansen Jacke wollte Fragen stellen, doch wir waren zu erschöpft, um zu sprechen. Der Brautvater Marc nahm uns zusammen und schirmte uns von Fragen ab. Im Hotel Weisses Kreuz wurden wir versorgt, der Heli flog mit einem Polizisten zur Unfallstelle. Im Saal neben dem Raum, wo wir verpflegt wurden, lagen die Toten auf den Tischen. Ihre Gesichter sahen völlig entspannt und friedlich aus.
Ich rief meine Eltern an, um sie zu informieren. Sie wussten schon, dass ein Lawinenunglück passiert war, zeigten sich aber nicht beunruhigt, weil sie unserer Vorsicht vertrauten.
Am Abend fuhren wir heim. Mit Postauto und Bahn.

Zeitungsberichte – Todesanzeigen -
Behauptungen und Dementi - Lawinenbericht

Die Resonanz des Lawinenunglücks in der Presse war enorm, waren doch fünf Bergsteiger aus der gleichen Stadt umgekommen, unter ihnen der erste Staatsanwalt von Konstanz und bekannte Vorstandsmitglieder der DAV Sektion. Informationen wurden gedruckt, aber auch die Hintergründe ausgeleuchtet. Jede Zeitung der Region Konstanz brachte ausführliche Berichte über das Unglück, über die Toten und ihre Familien. Von der FAZ bis zur Bildzeitung räumten auch alle grossen deutschen Blätter dem Unfall Platz ein. In der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien eine Meldung, die Bergsteiger seien trotz Warnung aufgestiegen. Sie hätten zu lange im Schnee gelegen und seien bewusstlos geworden. Ein Sprecher der Kantonspolizei habe die Zeitung informiert, dass es eine Lawinenwarnung eines Einheimischen gegeben habe. Der Unglückshang wird als bekannt für seine Gefährlichkeit erwähnt, da im Jahr 1947 dort schon einmal in einer Lawine sieben einheimische Bergsteiger gestorben sind. Auch das Oberbayrische Volksblatt erwähnte, dass es eine Warnung gegeben haben soll, ebenso die Bildzeitung. Das deutsche Boulevardblatt wusste sogar den Namen des angeblichen Warners und titelte in fetten Lettern: Almbauer Jenni: „Ich habe sie gewarnt“.
Die Konstanzer Zeitung zitiert dagegen nicht namentlich genannte Fachleute, dass „....sich die Konstanzer Gruppe in ziemlich sicheren Gebiet bewegt hat, dass die Lawinenverhältnisse aber noch selten so gefährlich gewesen sind wie in diesem Winter.“
Zum Unfallzeitpunkt arbeitete an der oberen Skiliftstation ein Mann namens Christian Jenny. Er wurde in manchen Zeitungsberichten (Bild, FAZ) mit der Aussage zitiert, er habe die Gruppe gewarnt. Doch da die Gruppe gar nicht an der oberen Skiliftstation vorbeigekommen war, ist dies schon aus geografischen Gründen unmöglich. Wer auf die Idee gekommen ist, ihm diese Warnung in den Mund zu legen, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ebenso wenig, welche Zeitung diese Meldung als erste verbreitet hat. Jedenfalls wurde sie dann vielfach abgeschrieben.
Der Artikel der Konstanzer Zeitung ging auch noch auf den Lawinenbericht ein. Zitat: „Der Schweizer Meteorologe und Lawinenforscher Paul Föhn nimmt an, dass unter der Pulverschneedecke die Altschneedecke abgebrochen ist. Dadurch habe das ganze Hangstück den Halt verloren. Damit habe die Gruppe aus Konstanz nicht rechnen müssen.“ Mit dieser Aussage entlastet der Lawinendienst nicht nur die Verunfallten, sondern in erster Linie sich selber. Der damaligen Praxis folgend wurde der Lawinenbericht fürs Wochenende am Freitag formuliert. In diesem Fall hatte dies dramatische Konsequenzen, da eine Warmfront den Lawinenbericht zu Makulatur entwertete. Diese radikale Veränderung der Situation wurde aber in den Aussagen von Paul Föhn nicht erwähnt, obwohl sie für jeden einigermassen erfahrenen Tourengänger im Gelände sofort sichtbar geworden ist. Föhn blieb bei seiner Aussage, die sich auf den Bericht vom Freitag bezog. Schon die Aussage, dass Pulverschnee gefallen sei, ist falsch. Es lagen zum Unfallzeitpunkt auf 2000 m.ü.M in der Ebene ca. 25 cm schwerer Neuschnee, Der Westwind hatte dann zu grossen Verfrachtungen geführt und die nach NO geneigte Mulde voll geweht. An der Abrissstelle wurde eine Schneehöhe von ca. 60 cm gemessen.
Die zeitgenössischen Presseberichte sind voller Anklagen, erwähnen Leichtfertigkeit und übertriebene Sorglosigkeit, sie machen die Verunfallten zu Schuldigen und erwähnen das Leid der Familien.

Ein einziges Bild

Ein Bild wurde gemacht, als wir die Leute aus dem Helikopter ausluden. Es war das einzige Bild vom Unfall und wurde in fast allen Zeitungen gebracht. In einem Artikel wurde jemandem von unserer Gruppe in den Mund gelegt, wir hätten die Verschütteten mit blossen Händen ausgegraben. Dabei hatten alle ihre Schaufeln dabei, was zu dieser Zeit völlig normal war.
Die Bildzeitung machte am 1. März 83 aus dem Laientourenleiter Werner Schillinger einen Bergführer, der in einer Luftblase überlebt hatte. Schillinger hatte tatsächlich das Glück, in aufrechter Position zu sein, als die Lawine zum Stehen kam, und so konnte er sich mit dem einen Arm im Schnee eine Höhle frei halten. Ausserdem wurde er dank der geringen Verschüttungstiefe als einer der ersten gefunden und konnte dadurch schnell wieder selber atmen. Im gleichen Artikel kommt noch ein Andreas Flütsch vor, der angeblich die Rettungskräfte geleitet hat. Ein Mitglied dieses Namens gab es in unserer Gruppe nicht, vielleicht arbeitete er auf der Basis der Rega, war aber nie auf dem Unfallort.
Die Konstanzer Zeitung titelte am Montag: 10 Kinder wurden zu Halbwaisen. Und der Untertitel lautete: Die fünf Lawinenopfer werden heute überführt – gemeinsame Trauerfeier. Im Text hiess es: „Das schreckliche Lawinenunglück in der Ostschweiz hat vier Kindern die Mutter und sechs Kindern die Väter genommen. Mit ihnen trauern die Ehefrauen und die übrigen Angehörigen. Niemand in Konstanz konnte gestern so richtig fassen, welches Verhängnis da über Mitmenschen hereingebrochen ist.“
Dann wurden in der Presse die einzelnen Personen beschrieben, in ihrer beruflichen und familiären Situation. Nur der jüngste von ihnen, der 26 jährige Arzt Stefan Kluge hatte keine Kinder. Dies wurde besonders erwähnt.
Am 12. März 1983 erschien im St. Galler Tagblatt ein polemischer Kommentar zum Lawinenunglück aus der Feder eines Kurt Schönenberger. Er war ein ehemaliges Mitglied der Sektion Konstanz, das nach seinem Austritt auch seinem minderjährigen Sohn verboten hat in der Sektion Mitglied zu werden. Er klagt die Sektion Konstanz und besonders den Schriftführer Raimund Steinhoff an, mit einer unverantwortlichen Sprache des Leistens, des Trotzens, Angreifens, Eroberns und Bezwingens des Berges in den Vereinsschriften den Boden für unvorsichtiges Bergsteigen gelegt zu haben. Er führt einige Beispiele aus Vereinspublikationen an, welche in seinen Augen die Gefahr verharmlosen und eine Art von Heldentum heraufbeschwören, die dem Schreiber das Gefühl vermittelt haben, in dieser Sektion sei ein sicheres Bergsteigen nicht möglich. Dabei zitiert er aus Vereinsschriften: „Das Wetter hat uns arg mitgespielt, aber wir haben ihm getrotzt und nahmhafte Gipfel erobert.“ Und weiter: „Um bei einer allfälligen Rückkehr fröhliche Gesichter zu sehen, hole man sich das OK der Familie ein.“ Schönenberger wirft dem Verein auch die Aussage vor, dass der Vorstand sich einig sei, dass ein Nachsinnen über Schuld zwecklos und unangebracht wäre. Raimund Steinhoff entgegnete in einem Leserbrief und bezeichnete die angeprangerte Sprache als szenenüblich und in vielen alpinen Zeitschriften zu lesen.

Trauern in Ökumene?

In den Zeitungen wurde auch überlegt, ob es eine gemeinsame Trauerfeier geben sollte – manche der Toten waren katholisch, andere evangelisch und die Ökumene war 1983 noch nicht soweit fortgeschritten, dass eine ökumenische Feier als selbstverständlich angesehen wurde. Sie fand dann doch gemeinsam unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung statt.
Im November 1983 erschien in der Gönner Zeitung der Schweizerischen Rettungsflugwacht eine Erinnerungsreportage des Helikopter Piloten Gerald Heidemann, der den ersten Helikopter zur Unfallstelle geflogen hat. Er schildert darin die Rettungsaktion als unverhältnismässig riskant, da im Nebel und Schneetreiben der Weg kaum zu finden gewesen war, und er nur mit Hilfe eines ortskundigen Bauern, der alle Hindernisse der Gegend genau kannte, geflogen werden konnte. Auch die Piloten und Ärzte, die an dieser Rettungsaktion beteiligt waren, haben ihr Letztes gegeben und unter Einsatz ihres Lebens gearbeitet.

Die Bergungskosten wurden vom Alpenverein Konstanz übernommen. Zuvor gab es noch einen Briefwechsel zwischen der Sektion Konstanz und dem DAV, wie ihre Verteilung zu handhaben sei, insbesondere, wenn bei einem allfälligen Schuldspruch Forderungen auf den Verurteilten zukommen würden. Schadenersatzforderungen könnten Werner Schillinger, gegen den Anklage erhoben worden war, wirtschaftlich in den Ruin treiben. Die Sorge war insofern unbegründet, als dass die Sektion Konstanz für alle von der Sektion ausgeschriebenen Anlässe eine Haftpflichtversicherung hatte. Eine juristische Unschärfe ergibt sich dort, wo die Gruppe der Überlebenden sich einerseits als private Gruppe mit Solidarhaftung bezeichnete, um nicht jemanden als Tourenleiter zu belasten, und anderseits allfällige Regressforderungen auf die Vereinshaftpflichtversicherung abwälzen wollte, um niemanden wirtschaftlich zu gefährden. Ausserdem wollte der Verein sich auch hinter seine Mitglieder stellen, da das Vereinswesen weitgehend davon lebt, dass Mitglieder für Kameraden Verantwortung übernehmen und Touren nach bestem Wissen und Gewissen organisieren. Ohne ehrenamtliche Tourenleiter ist keine Alpenvereinstätigkeit denkbar.

Raimund Steinhoff ging eine Woche nach dem Unglück ins Gebiet. Er sprach mit dem Bauern Christian Jenny, der die Gruppe gewarnt haben sollte. Er hat sie zwar von weitem aufsteigen sehen, doch hat er nie mit ihnen gesprochen. Raimund verlangte von der Bildzeitung eine Richtigstellung. Das Dementi nahm zwei Zeilen in Anspruch. Raimund hat neben dem Lawinenhang einen Rutschkeil in den Schnee gegraben, um den Schneedeckenaufbau zu überprüfen. Der Keil rutschte sofort spontan ab, das zeigt den besonders ungünstigen Schneedeckenaufbau an dieser Stelle auf. Auf einer Eislamelle lag Saharasand und eingeschneiter Rauhreif, auf dem der Neuschnee keinen Halt fand. So glitt die Neuschneedecke bei der ersten Störung durch die Tourengänger ab. Hätte die Sonne den Schnee durchfeuchtet, wäre die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Schichten im Schnee nach einigen Tagen fester geworden. Doch bei der gegeben Hangneigung und Exposition bescheint die Sonne im Winter den Hang nie.
Zwei Tage nach dem Unfall, an einem Dienstag ging ich mit Freunden auf eine Skitour ins Berner Oberland. Die Woche danach ist mir als kalt, aber wolkenlos in Erinnerung geblieben. Wir unternahmen von der Lämmernhütte aus täglich Skitouren und mein Interesse galt verständlicherweise dem Schneedeckenaufbau. Im Berner Oberland setzte sich der Neuschnee vom Wochenende ziemlich schnell und verfestigte sich mit der Unterlage. Nur schattige nach Nord bis Ost gerichtete Steilhänge mit viel Triebschnee blieben gefährlich. Die Tour war schon lange abgemacht und ich dachte, für die Verarbeitung könne ich nichts Besseres tun, als gleich wieder in die Berge zu gehen und die schlechten mit guten Erlebnissen überdecken.

Eine Anzeige wegen fahrlässiger Tötung

Eugen Stadelhofer war an diesem Sonntag als nichtberuflicher Tourenleiter für die Gruppe verantwortlich, er hatte eine Tour aufs Chüenihorn ausgeschrieben. Schon auf der Hinfahrt nach St. Antönien zögerte er zweimal und wollte umkehren. Seine Tourenteilnehmer überzeugten ihn, die Situation wenigstens vor Ort anzusehen. Auf dem Parkplatz in St. Antönien gab er die Führung der Gruppe ab, weil er die geplante Tour aufs Chüenihorn für undurchführbar hielt. Dann ging er einfach mit der Gruppe los, als normales Mitglied einer Gruppe von Bergsteigern in Solidarhaftung. Die Gerichtspraxis nimmt normalerweise an, dass derjenige mit der grössten alpinen Ausbildung oder Erfahrung automatisch die Verantwortung einer Gruppe trägt, die in Solidarhaftung etwas unternimmt. Das sind in erster Linie Bergführer, dann aber auch ausgebildete Tourenleiter der Alpenvereine, die sich in einem Unglücksfall einer Gruppe, der sie angehört haben schwerlich aus der Verantwortung nehmen können. In diesem Fall trug Eugen Stadelhofer die Verantwortung, doch er war in der Lawine ums Leben gekommen. So wurde gegen den nächsten Überlebenden in der möglicher Verantwortungshierarchie Anzeige wegen fahrlässiger Tötung in fünf Fällen erstattet. Es traf den Schreinermeister Werner Schillinger, der in der Lawine seine Ehefrau verloren hatte. Er wurde vom zuständigen Gericht unter den Überlebenden als der am besten ausgebildete Teilnehmer angesehen.

Die Vorstandsmitglieder waren sich einig, dass ein Nachsinnen über Schuld nicht nur zwecklos, sondern auch unangebracht gewesen wäre. Der Verein kümmerte sich mehr um die Hinterbliebenen als um die juristische Aufarbeitung und bemühte sich zu bewirken, dass die polizeiliche Untersuchung eingestellt wurde.
Am 29.12.83 liess die Staatsanwaltschaft Graubünden die Anklage gegen Werner Schillinger mit einer Einstellungsverfügung fallen. Ausführlich wird in dem Dokument erläutert, weshalb er nicht für das Unglück haftbar gemacht werden konnte.
Dass das Lawinenbulletin bei weitem nicht die real bestehenden Verhältnisse beschrieben hatte, sondern fälschlicherweise von geringer Lawinengefahr gesprochen hatte, wird zu seinen Gunsten ausgelegt. Die Kosten für die eingestellte Untersuchung betrugen Fr. 2206.40. Sie wurden je zu einem Fünftel, Fr. 441.30 dem Nachlass der Verstorbenen auferlegt. Die Überlebenden wurden nicht belangt. Die Rechnung setzt sich aus interessanten Einzelbeträgen zusammen, wobei auffällt, dass mit Fr. 920.—der grösste Posten für das Gutachten des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung Weissfluhjoch Davos entfällt. Soviel wurde eingesetzt um das zum Unfallzeitpunkt völlig unzutreffende Lawinenbulletin zu erläutern. In der Rechnung der Staatsanwaltschaft gibt es einen A. Flütsch, der für seine Dienstleistungen Fr. 120.—verrechnete.

Gauenhütte - Raimund Steinhoff - Der losgebrochene Stein

Eine Betreuung für die Retter war nicht vorgesehen, wir waren mit unseren Eindrücken uns selbst überlassen.
Ich träumte während Jahren von den Bildern, der in der Lawine verschütteten. Immer wieder tauchten die Erinnerungen auf und liessen mich während zwei Jahrzehnten viele Nächte lang nicht schlafen. Als ich einmal in einem Eisenbahnabteil Kotze roch, geriet ich in Panik. Der Gestank erinnerte mich an den Stress, dem wir beim Beatmen ausgesetzt gewesen sind, die Anstrengung und die schwindende Hoffnung auf Wiederbelebung.
Zum Dank für unsere Rettungsbemühungen wurden wir von der DAV Sektion Konstanz, der die verunfallte Gruppe angehört hatte, in ihre Clubhütte Gauenhütte im Montafon eingeladen, wo ich Raimund Steinhoff kennen lernte. Auch einige der Hinterbliebenen waren auf der Gauenhütte dabei, ich erinnere mich an Angelika Stadelhofer, die ihren Mann Eugen Stadelhofer in der Lawine verloren hatte. Sie war eine kleine Frau mit rötlichem Kraushaar. Später habe ich mit Raimund einige gemeinsame Touren unternommen. Pollux, Grand Combin und auch kleinere. Fürs Gipfelfoto hatte er immer einen Kamm in der Tasche und auch bei –25 Grad und heftigem Wind auf dem Grand Combin, wo verschiedene der Tourenteilnehmer schon Erfrierungen an den Händen und im Gesicht hatten, legte er seine rotblonden Haare fürs Foto in einen akkuraten Scheitel. Raimund Steinhoff hat inzwischen alle 47 4000-er der Schweizer Alpen bestiegen. Er war 34 Jahre im Vorstand des DAV Konstanz, davon 10 Jahre als 1. Vorsitzender. Seine Frau Erika ging in früheren Jahren eher auf leichtere Touren mit, später begleitete sie ihren Mann aber auch auf schwere Touren.

Im September 1987 hat Raimund mit seinem langjährigen Tourenbegleiter Georg Bernhardt eine Tour aufs Schreckhorn gemacht. Beim Abseilen lösste sich ein Haken oder eine Seilschlinge riss, und Georg Bernhardt stürzte 300 Meter tief auf den Gletscher. Raimund stieg ungesichert bis zu seinem Freund ab, der in der Nähe des Bergschrundes tot liegen blieb.

Einen oder zwei Sommer nach dem Lawinenunglück ging ich mit meiner Freundin zur Unfallstelle am Chrüz in der Hoffnung, die Bilder, die mich in Albträumen immer wieder heimsuchten, würden davon verschwinden. Doch das half nichts. Der Berg war im Sommer nicht der gleiche. Heidelbeersträucher überzogen den Hang. Im Sommer sah er lieblich und völlig harmlos aus. Die Bilder von den im Schnee Verschütteten erschienen weiterhin in meinen Träumen, das Gefühl von Stress, wie ich ihn beim Beatmen erlebt hatte, holte mich immer wieder ein. Richtig ruhig fühlte ich mich lange Zeit nur bei ganz konzentrierter Arbeit in meiner Töpferei oder wenn ich möglichst allein in den Bergen unterwegs war.
Nach 20 Jahren war die Tour aufs Chrüz bei unserer SAC Sektion als Skitour auf dem Tourenprogramm. Da ging ich mit. Ich erhoffte mir nicht viel, aber als ich den Stein sah, der zur Erinnerung an das Unglück errichtet wurde, er gleicht einer ganz kleinen Kappelle, und sah, dass im Giebelbereich bereits der Zahn der Zeit eine Steinplatte heraus gebrochen hatte, da fiel etwas von mir ab. Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Der Ort verlor mit diesem Bild des langsam verfallenden Mahnmals seinen Schrecken. Dieser eine Stein, der aus einem Giebel heraus gebrochen ist, hat mich von den Albträumen erlöst. Seither habe ich nie mehr von dem Lawinenunglück geträumt.

27 Jahre später -
Ein Gespräch mit Erika und Raimund Steinhoff im August 2009

Das Ehepaar Steinhoff wohnt in einer kleinen Eigentumswohnung in einem Aussenquartier von Konstanz. Nahe am See, in einer ruhigen Wohngegend. Die Wohnung sieht so aus, als sei gerade das Möbelhaus vorgefahren und habe die Einrichtung akkurat hingestellt. Alles ist ordentlich, an den Wänden hängen Bergfotos. Einige zeigen den Sohn Michael, der Bergführer geworden ist, den Beruf aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Sie haben noch eine Tochter, Corinna, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Konstanzer Altstadt wohnt.
Als ich anrief um ein Interview zu erbeten, waren sie sofort bereit, und so treffe ich sie wenige Tage nach meinem Anruf in Konstanz.
Wir setzen uns fürs Interview an einen Tisch mit Eckbank und einer gehäkelten Tischdecke drauf.
Erika reagiert auf meine Fragen oft schneller als Raimund und ergänzt manches, was er sagt. Inhaltlich sind sie aber in jedem Punkt kongruent.
Im Zentrum meines Interviews steht die Frage: Wie gehen die Familien mit der Nachricht vom Bergtod eines Angehörigen um? Aber unser Gespräch dreht sich auch um die vielen Unfälle, in welche die Sektion Konstanz mit ihren ca. 6000 Mitgliedern in den letzten Jahren verwickelt war. Daneben frischen wir Erinnerungen an gemeinsame Bergtouren auf und gleichen unsere Erfahrungen ab, in Bezug auf das Bergsteigen allgemein und speziell in Bezug auf dessen Gefahren.

Die Botschaft vom Tod

Raimund hatte damals die Aufgabe übernommen, die Angehörigen zu benachrichtigen. Er erzählt von dem Abend mit sichtlicher Erregung. Fritz Schaffheutle, der erster Vorsitzender, war so geschockt, dass er dazu nicht in der Lage war. „Ich bin dann zu den Leuten hingegangen. Der verunfallte Eugen Stadelhofer arbeitete als Schreinermeister im gleichen Betrieb wie ich. Er in der Werkstatt, ich im Büro, da haben wir uns sehr gut gekannt. Erika und ich fuhren von einer Familie zur Nächsten.“ Raimund erinnert sich, dass ganz verschiedene Reaktionen auf die Hiobsbotschaft kamen. „Manche hatten mit so was gerechnet, weil die Leute viel im Winter unterwegs waren. Andere waren geschockt.“
Erika erinnert sich, dass Christa Renkawitz total schockiert war. Ihr Mann Hans Peter Renkawitz hatte gerade eine lange, schwere Krankheit überstanden und verstarb kaum genesen in der Lawine. Dies erwähnte eine der Konstanzer Zeitungen in einem Nachruf.
Erika und Raimund sind also an jenem Sonntagabend ins Auto gestiegen um die Kunde von den verunfallten Bergkameraden zu deren Familien zu tragen. Eine schaurige Fahrt durch die von deutscher Gemütlichkeit geprägte Kleinstadt. Jede Familie wurde von ihnen persönlich informiert. Raimund legt im Gespräch lange Pausen ein. „Ja, wie haben die reagiert? Lore Schillinger ist ja im Schnee umgekommen. Die haben 3 Kinder, die waren fast erwachsen, so 15 bis 19. Sie waren an dem Abend alle zuhause. Erst waren die mal ganz still. Die sagten gar nichts, einfach nur geschwiegen haben die. Die konnten das erst mal gar nicht fassen, dass die Mutter umgekommen ist.“ Raimund ergänzt: „Der Vater war ja auch in der Lawine und die Mutter ist umgekommen.“
Die Steinhoffs wollten an dem Tag auf den Piz Medel, und als Raimund gesehen hatte, dass es so warm geworden war, hat er die Tour abgesagt.

Die Frage nach dem Sinn

Ich will von den beiden Steinhoffs wissen, ob sie sich in solchen Situationen nicht die Frage nach dem Sinn des bergsteigerischen Tuns stellen.
Raimund wiegt den Kopf, und sagt etwas nachdenklich: „Da kommen einem schon Bedenken und Vorsicht ist immer richtig. Wir sind seither viel vorsichtiger geworden.“ Er beteuert, dass er seither ohne den Lawinen- und den Wetterbericht konsultiert zu haben, auf keine Tour mehr geht. Doch die Bergsteigerei hinterfragt er in diesem Gespräch nie grundsätzlich. „Ich habe mich entschieden, nur noch auf Hochtouren auf Gletschern zu gehen, wo keine Lawinen kommen können.“ Erika: „Ja, stellen wir uns die Frage nach dem Sinn? Nein, ich glaube, wir gehen so gerne, dass wir einfach wieder gehen.“
Raimund ergänzend: „Ja, man geht wieder. Aber eine gewisse Zeit brauchte ich dann schon. Nach dem Unglück am Schreckhorn hätte ich eine Woche später eine Tour führen sollen, da war ich nicht in der Lage.“
Zwischen den Sätzen liegen oft längere Pausen, in denen die längst vergangenen Ereignisse heraufbeschworen werden, in denen aber die Gedanken auch zu anderen Bergabenteuern schweifen.
Erika nimmt den Faden wieder auf: „Ja das am Schreckhorn war für dich noch krasser.“ Denkpause. Ein anderer Freund der beiden, Heinz Kohler, der wie auch Georg Bernhardt mit dabei war auf der Tour am Grand Combin vom 1. Mai 1986, war am 27. Juli jenes Jahres am Westgrat der Kuchenspitze in relativ leichtem Klettergelände unangeseilt abgestürzt. Er hatte einen drogenabhängigen Sohn, der mit seiner Hilfe seit einiger Zeit clean war, und der hat sich nach dem Tod des Vaters das Leben genommen.
Eine andere Frage, die mich interessiert, ist, wie der Tod von Bergsteigern in der Konstanzer Gesellschaft aufgenommen wurde. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden deutsche Bergsteiger oft als nationale Helden gefeiert. So wurden die Erstdurchsteiger der Eigernordwand von Hitler persönlich empfangen und geehrt, und die Opfer der erfolglosen, tödlich verlaufenen Versuche wurden als nationale Helden neben den gefallenen Soldaten von Stalingrad gleichgestellt. Ich will wissen, ob da noch so etwas wie eine Heroisierung stattfand und ob sie vielleicht eine Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung bemerkt haben.
Die Antwort von Raimund kommt schnell: „Heroisierung? Glaub ich nicht, das ist doch vorbei.“ Erika ergänzt: „Heute denkt man eher an die Angehörigen.“ Damit ist aber auch gesagt, dass es einmal anders war.
Mit Werner Schillinger und Adolf Bäumle, die das Unglück am Chrüz überlebt hatten, sind Erika und Raimund in der Folge viel zusammen gewesen. Lange Spaziergänge ermöglichten es den beiden, sich auszusprechen. Erika ist sich sicher, dass die Leute, die viel und offen über ihren Verlust gesprochen haben, besser und schneller drüber hinweg gekommen sind, als Leute, die sich in der Folge verschlossen haben.
Die Hinterbliebenen des Lawinenunglücks am Chrüz bilden so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft, die sich nach einem Vierteljahrhundert langsam auflöst. Die meisten von ihnen treffen im Advent einmal zusammen, und gehen zusammen meist nach St. Gallen ins Theater.
Raimund erwähnt, dass es im vergangenen Jahr nochmals einen Gedenkgottesdienst gab, dass da aber nicht mehr alle Hinterbliebenen und Überlebenden gekommen sind. „Die Frau vom Dirk Feistkorn kam nicht, und Christa Renkawitz nicht, sie ist damals auch nicht zur Gauenhütte gekommen, sie sagte schon damals, sie wolle sich das nicht antun.“
Erika erinnert sich daran, dass Angelika Stadelhofer gleich nach der Benachrichtigung in die Schweiz fuhr. „Sie hat sich den Eugen noch vor Ort angesehen, bevor der Sarg zugemacht wurde.“



Der Blick von aussen - Stört das Unverständnis?
Wir wissen ja, was wir tun

Die Frage nach der Wahrnehmung und der Beurteilung der alpinistischen Tätigkeit in der Bevölkerung und in der Presse beantwortet Raimund mit einem wegwerfenden Kopfnicken. „Viele betrachten das als Leichtsinn.“ Und Erika doppelt gleich nach: „Ja, vor allem nach dem Unfall von Georg. Warum geht der mit 60 noch aufs Schreckhorn? So hiess es an manchen Orten, auch wenn der Unfall mit dem Alter nichts zu tun hatte.“
Erika nimmt an, dass viele Leute schon denken, das sei wie eine Sucht, und dass die Berge die Menschen leichtsinnig machen. Raimund bestätigt, dass er auch schon Unverständnis begegnet ist, doch es scheint die beiden überzeugten Bergsteiger nicht zu stören. Zusammen sagen sie den Satz wie einstudiert: „Nein, ich würde sagen, die haben einfach keine Ahnung, die können das einfach nicht entscheiden. Nein, also das stört uns eigentlich nicht wirklich, wir wissen ja, was wir da tun.“
Meine Vermutung, dass sich hinter dem Alpinismus eine Todessehnsucht verbergen könnte, weisen beide vehement zurück. „Todessehnsucht gar nicht! Bei uns nicht, da müsste einer schon Selbstmordabsichten haben. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, dann würden wir nicht gehen. Man bereitet sich vor und hat Spass daran.“
Der Gedanke an eine Lebensüberdrüssigkeit von Bergsteigern ist ihnen noch nie gekommen. „Man macht es für sein Leben und bereitet sich vor und hat Spass daran.“

Der Absturz am Schreckhorn - Ein alter Haken

Dann erzählt Raimund die Geschichte von vom Absturz von Georg Bernhardt am Schreckhorn.
Erika hatte damals keine Erfahrung mit Klettern in dieser Höhe. Ausserdem ist die Route über den Südpfeiler sehr ausgesetzt. Deshalb blieb sie in der Schreckhornhütte, während die Männer aufs Schreckhorn stiegen. „Also gereut hat es mich nicht wirklich, ich wusste, dass es schwer war. Die Männer haben gesagt, dass es laut Führer sieben Stunden sind bis zum Gipfel, das ist schon lang und in der Höhe und so sagte ich mir eben, dann lassen wir das. Ich habe vor der Hütte gesessen und gelesen.“
Raimund übernimmt das Wort: „Die 4000-er der Schweiz habe ich alle bestiegen, aber ausser beim Schreckhorn hatte ich nie Probleme. Das war bei der dritten Abseilstelle. Ich war schon weiter abgeklettert und hatte einen schlechten Stand. Da war ein Schneefeld, das habe ich gequert. Dann rief Georg: „Du hast ja einen Haken übersehen,“ den benützte er dann und hängte das Seil dort ein. Als er sich ins Seil lehnte, musste sich das dann gelöst haben, ich weiss nicht, ob der Haken nicht richtig gesteckt hatte oder eine Schlinge nicht gut war. Er stürzte an mir vorbei. Das Seil wirbelte weit in der Luft. Er hat noch geschrieen. Als Georg abgestürzt war, kam in mir eine gewisse Unsicherheit auf. Und zwar ein Zittern beim Klettern.“ (Er zeigt, wie er vom Eindruck des Ereignisses zusammengekrümmt wurde und zitterte) „Mit Seilschlingen bin ich immer vorsichtig, wenn die nicht gut sind, können sie reissen. Wenn da vorher ein Seil abgezogen wurde, kann das die Schlinge versengen und dann hält die nicht mehr.“ Nach einer kurzen Pause fährt er in seiner Erzählung weiter: „Da war noch ein Bergführer mit zwei Gästen unterwegs, der hat dann die Rettung organisiert.“
Während Raimund seinen Gedanken nachhängt, führt Erika den Gesprächsfaden weiter: „Da dachte ich, warum bin ich plötzlich so unruhig? Und dann ging’s auch nicht lange, bis die Klienten vom Bergführer kamen und ich sie fragen konnte, warum sie alleine kommen. Die sagten, ihr Bergführer wollte das noch beobachten, was die andern da oben tun. Der Bergführer hatte gesagt, dass da oben was nicht stimmt. Dann kam auch gleich der Hubschrauber...“
Raimund: „Ja das waren zwei Hubschrauber, der erste war mit Gästen unterwegs, der flog gleich drüber hinweg, und der zweite war dann der Rettungshubschrauber.“
Erika war heilfroh, als Raimund dann aus dem Helikopter ausstieg. „Aber wie! Der konnte kaum mehr gehen... nass und ganz gebückt.“
Raimund: „Ja, ich war ganz nass, ich musste da einen Wasserfall queren. Ich war die ganze Strecke bis zum George abgeklettert. Die ganze Kante und dann die Rampe. Zwei Stunden habe ich gebraucht, bis ich bei ihm war. Da habe ich ihn dann gefunden. Er war schon tot. Der Bergführer hatte beobachtet, dass nur einer von uns absteigt. Im Aufstieg hatten wir kaum Schwierigkeiten. Normalerweise probiere ich immer, ob die Haken richtig sitzen. - (Er zeigt ein Bild vom Schreckhorn) Der Bergführer war auch oben, die waren aber im Abstieg schneller und er hat dann von unten gesehen, dass bei uns etwas nicht stimmte, weil nur einer abgestiegen war.“
Erika zeigt auf einem von Raimund gemalten Bild die Absturzstelle und den ganzen Weg, den Georg abgestürzt ist und die Kante, über die Raimund ungesichert abgeklettert ist.

Dynamik in der Gruppe?

Ich will wissen, wie sie die Gruppendynamik einschätzen, ob man vorsichtiger geht, wenn man allein ist und ob es so etwas wie einen Gruppendruck gibt. Die Reaktion kommt unerwartet heftig, zuerst von Erika: „Das geht schon los, wenn man losgeht, dann gehen sie schon alle schnell, sieht ja schlecht aus, wenn man als letzter geht. Und so geht das weiter. Jeder will zuforderst gehen. Wenn ich alleine gehe, frage ich mich ob ich das kann oder ob’s zu gefährlich wird.“
Raimund meint, keiner wolle kneifen, in der Gruppe fühle man sich wohler und besonders Männer melden in einer Gruppe nie Bedenken an, sondern wollen immer nur vorwärts gehen.
Raimund führt noch kleinere Touren, er hat Artrose in den Fingern und kann so nicht mehr gut klettern. „So kann ich nicht mehr zum Matterhorn hoch. Skitouren, das geht noch und wandern.“
Jede Woche treffen sie sich mit dem Alpenverein. Einmal zum Wandern und einmal zum Radfahren. Klettern strengt sie mehr an als früher.

Am Abend

Nach dem Besuch bei ihren Eltern treffe ich noch die Tochter Corinna Steinhoff. Sie ist Kunsttherapeutin und lebt mit ihrer Familie in der Konstanzer Altstadt. Als ich sie frage, wie ihr Vater damals auf den Unfall am Schreckhorn verarbeitet hat, ruft sie laut aus: „Ja da wurde er erstmals in seinem Leben menschlich! In ihm hat der Unfall eine Veränderung ausgelöst, dass er auf die Pflege von Sachwerten weniger Energie verwendet und sich vermehrt um Menschen kümmert, sich den Enkeln widmet und gelernt hat, auch mal eine Fünf gerade sein zu lassen.“

Heute

Wie schon erwähnt, ging ich zwei Tage nach dem Unfall am Chrüz auf die nächste Skitour. Mir wäre es nicht in den Sinn gekommen, das Bergsteigen zu lassen. In den folgenden Jahren machte ich eine Ausbildung zum SAC-Tourenleiter und verbrachte während vielen Wintern so viel Zeit als möglich in den Bergen. Ich dachte, auf Grund meiner Erfahrung und meiner Vorsicht würde ich das Risiko tief halten und schätzte mich als sicheren Bergsteiger ein. Im Januar 1994 wurde ich in einem Hang, den ich zuvor als sicher beurteilt hatte, von einem Schneebrett mitgerissen und ganz verschüttet. Ich hatte Glück, dass ich mir mit dem rechten Arm die Schneemassen von meinem Kopf wegschieben und eine Höhle freihalten konnte. Ausserdem stand ich aufrecht in der Lawine, als sie zum Stehen kam. Bevor die Kameraden bei mir waren, konnte ich mich selber aus dem Schnee befreien. Ich hatte den Hang als sicher beurteilt, weil er nur wenig über 30 Grad steil war, der Schnee wegen der Sonneneinstrahlung eine Harschdecke aufwies und die Exposition nach Süden ausgerichtet war. Dieser Hang hätte trotz der Gefahrenstufe „erheblich“ für Expositionen Nordwest bis Ost sicher sein müssen.
Im Mai des gleichen Jahres wollte ich mit einem Freund über den Tiefengletscher auf den Galenstock steigen. Wir waren etwas spät in Realp gestartet und mein Freund hatte einen Trainingsrückstand, was unseren Aufstieg verlangsamte. Die Maisonne weichte den Schnee so stark auf, dass ich mich zum Umkehren entschloss, bevor wir den Bergschrund am südlichen Tiefensattel erreichten. Auf der Abfahrt gab der Schnee plötzlich unter mir nach und ich stürzte etwa zwei Meter in die Tiefe. Dort verklemmte sich der Schneeblock, auf dem ich lag in einem breiten, nach unten enger werdenden Gletscherspalt. Als ich mich mit Hilfe meiner Skistöcke versuchte aufzurichten, fassten diese nur in eine gähnende, schwarze Leere. Ich konnte mich dann mit viel Glück auch aus dieser Situation retten.
In den folgenden Jahren bin ich seltener in die Berge gegangen und mit Klettern habe ich fast ganz aufgehört. Meine Begeisterung für die Berge und das Bergsteigen ist aber geblieben.