Dienstag, 8. Juni 2010

Einführung ins Buch

Bergtod

Einführung ins Buch

Menschen stiegen zu allen Zeiten über Pässe und Berge. Für die Jagd und den Handel begaben sie sich schon in prähistorischer Zeit in unwirtliche Gegenden. Der am Tisenjoch auf dem Similaungletscher im Ötztal gefundene Jäger, von den Medien liebevoll „Ötzi“ genannt, legt dafür mit seiner im Eis konservierten Leiche Zeugnis ab. Gemsjäger und Kristallsucher bewegten sich zu allen Zeiten in diesem hochalpinen Gelände, doch war es keine alpinistische Tätigkeit im eigentlichen Sinne, da ihr Ziel nicht in der Tätigkeit selber begründet lag, sondern einem andern Zweck diente. Ihre Besteigungen führten nicht auf Gipfel oder Grate, sondern der Handel oder das Fleisch der Gemsen, Murmeltiere und Steinböcke lockte sie in die Höhe. Die Besteigung des Mont Ventoux durch den italienischen Dichter Francesco Petrarca im April 1336 blieb während Jahrhunderten ohne Nachahmung. Petrarca erlebte dabei eine Art Erleuchtung. Er sah von diesem Augenblick an die Welt nicht mehr mit den Augen des Mittelalters als eine feindliche, die nur dem Durchgang ins Paradies dient, sondern erkannte in ihr einen eigenen Wert. Die eigentliche Bergsteigerei als Massenbewegung, die Menschen aus purer Lust auf abenteuerliche Wege in alpinem Gelände führt, ist erst im 18. Jahrhundert entstanden. In der Malerei diente die Landschaft während Jahrhunderten nur als allegorischer Hintergrund und war nicht im eigentlichen Sinn Thema eines Bildes. 110 Jahre nach Petrarcas Bergbesteigung änderte sich dieser Blick auf die Welt. Die Auseinandersetzung mit der realen Landschaft setzte bei Konrad Witz und seinem Bild „Der wunderbare Fischzug“ von 1444 ein. Doch auch auf diesem Bild dient die Landschaft der Illustration eines biblischen Themas. Erst im 17.Jahrhundert nimmt die Landschaft als eigentliches Bildthema einen Raum ein, ohne historischen oder biblischen Themen einen Hintergrund zu bieten. Damals entwickelte sich auch ein wissenschaftliches Interesse an der Landschaft im Allgemeinen und an der Gebirgslandschaft im Speziellen. Gleichzeitig entstand in der Nachfolge zur Erstbesteigung des Mont Blanc im Jahre 1786 und Horace-Bénédict de Saussures wissenschaftlichen Experimenten auf dem Gipfel des Mont Blanc von 1787 ein eigentlicher Boom des Bergsteigens in den Alpen. Während de Saussure die gewagte Besteigung aus wissenschaftlichem Interesse unternahm, wurde das Bergsteigen in der Folge zu einer Freizeitbetätigung für reiche, wagemutige Engländer, die mit einheimischen Führern auf alle Alpengipfel stiegen. Die letzte grosse Erstbesteigung in den Alpen führte 1865 aufs Matterhorn, dem damals „letzten Problem in den Alpen“. Der Aufstieg gelang unter der Leitung des Schriftstellers und Malers Edward Whymper relativ leicht, doch stürzten beim Abstieg vier der sieben Tourenteilnehmer über die steile Nordwand in den Tod. Sie waren bei weitem nicht die ersten, die bei alpinistischer Tätigkeit ums Leben kamen, doch da mit dem Chamonixer Bergführer Michel Croz ein sehr bekannter Mann abgestürzt war, folgten in den Medien lange Polemiken über die Unfallursache und die Schuld. Whymper konnte sich ein Leben lang nicht vom Verdacht befreien, er habe das Seil, an dem die Kameraden hingen, durchgeschnitten. Das Seil ist heute im Matterhornmuseum in Zermatt zu bestaunen.

Während im modernen, alltäglichen Leben möglichst jedes Risiko vermieden oder doch wenigstens versichert wird, sucht der Alpinist genau dieses Risiko und lotet die Grenzen des gerade noch Machbaren mit gezieltem Training und einer sich ständig verbessernden Technik aus. Immer neue, schwierigere Routen werden erschlossen. Für die Spitzenkletterer gilt es, Routen nicht nur zu durchsteigen, sondern es wird darauf geachtet, sie schnell, in gerader Linie, mit wenig Material, ohne Vorbesichtigung oder im Winter bei vereistem Fels zu klettern. Künstlicher Sauerstoff beim Höhenbergsteigen stösst bei vielen Extrembergsteigern genauso auf Ablehnung wie die Verwendung von Bohrhaken, um glatte, rissfreie Wände abzusichern. Viele dieser Extremen, wie sie sich selber nennen, lassen bei Unfällen ihr Leben. Sie stürzen ab, werden von Lawinen verschüttet, verschwinden auf immer oder oft für Jahrzehnte in Gletscherspalten bis das „ewige“ Eis ihre Leichen wieder freigibt. Der Tod ist ihnen bei den immer höheren Schwierigkeiten ein treuer Begleiter. Kein noch so gutes Seil, kein noch so hartes Training und auch nicht die modernsten Wetterberichte vermögen das Risiko eines Absturzes, einer Lawine, eines lebensbedrohlichen Wettersturzes, eines Lungen- oder Hirnödems in grosser Höhe je völlig auszuschalten.
In den Bergen kommen aber nicht nur Extreme ums Leben, auch einfachen Bergwanderern kann ein Ausrutschen in steilem Gelände, ein Blitz- Stein- oder Eisschlag zum Verhängnis werden.
Der Tod von Bergsteigern hat in der Ikonographie der Friedhöfe seine besonderen Spuren hinterlassen. Ein gestalterisches Element, das auf fast allen Bergsteigergräbern eingesetzt wird, sind Seil und Pickel als Handwerkszeug der Bergsteiger. Oft ist der Pickel nicht nur als Relief in den Stein gehauen, sondern ein Pickel aus Bronze, eventuell mit einem Seil aus Bronze zieren viele Gräber.
Wie im Leben so im Tod bilden die Bergführer eine besondere Kategorie der Bergsteiger. Auch sie, die ersten Berufssportler überhaupt, sind trotz grosser Erfahrung im Umgang mit den objektiven Gefahren der alpinen Welt nicht davor gefeit, bei ihrem Beruf das Leben zu lassen. Auf ihren Gräbern ist die Berufsbezeichnung „Bergführer“ fast immer vermerkt, auch wenn sie im hohen Alter im Bett gestorben sind.
Pro Jahr kommen in den Schweizer Bergen zwischen 120 und 200 Menschen ums Leben. Dies war in den Anfängen des Alpinismus so und es ist heute nicht anders. Die Routen werden immer schwieriger, die Klettertechnik und das Training der Bergsteiger passen sich ständig den neuesten Bedürfnissen an, doch Unfälle mit tödlichem Ausgang geschehen mit grosser Regelmässigkeit.
Mit dem Wandel der gesellschaftlichen und spirituellen Bedeutung, die dem Bergsteigen unterlegt wurde und wird, hat sich auch der Umgang mit dem Tod im Alpinismus immer mit dem Zeitgeist verändert. Nach erfolgreichen Besteigungen liessen sich die frühen Bergsteiger als Helden feiern. Die Erstdurchsteiger der Eigernordwand wurden von Hitler persönlich begrüsst und als nationale Helden geehrt.
Bei einem der häufigen Abstürze wurden sie in romantischen Bergsteigergräbern beerdigt. Die Friedhöfe in Grindelwand, Zermatt oder Chamonix legen ein beredtes Zeugnis ab. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich Bergsteigergräber dem allgemeinen schlichteren Usus angeglichen. Vermutlich durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde der Heldenmythos deutlich entzaubert. Pragmatischere Deutungen des alpinen Tuns verdrängten die heldischen und soldatischen der Vergangenheit. Die heutige Freizeitgesellschaft bietet die Möglichkeit aus einer grossen Palette von mehr oder weniger gefährlichen Sportarten auszuwählen, in denen das Bergsteigen nur eine von unterschiedlichen Spielarten ist.

Seit jeher standen erfolgreiche Bergsteiger im Zentrum des öffentlichen Interessens. Zeitungen verfolgten ihr Tun und rissen sich um Exklusivinterviews. Schon die Erstbesteigungen des 19. Jahrhunderts waren Medienereignisse erster Güte. Spektakuläre Abstürze wie der bei der Erstbesteigung des Matterhorns lieferten während Jahrzehnten Stoff für Spekulationen. So wie auch das Verschwinden von Günther Messner in der Diamirflanke am Nanga Parbat nach 35 Jahren immer wieder für Schlagzeilen gut ist. Das Fernsehen berichtete schon in den 60er Jahren live von einer Bergung aus der Eigernordwand, und die Bergsteiger jener Generation, wie John Harlin, liessen sich gerne feiern wie Popstars. Wer den Rahmen des bis anhin Möglichen sprengte, fand den Weg in die Medien und erhielt dort oft mehr und länger Aufmerksamkeit, als ihm lieb war.
Die medialisierte moderne Welt, bietet nicht nur die Möglichkeit am Tun der Extremen teilzunehmen, indem man sie bei waghalsigen Besteigungen mit Fernrohren ins Visier nimmt, sondern auch das Internet bietet Plattformen, wo jedermann seine Filme und Bilder öffentlich zugänglich machen kann. So kann man heute zuhause in ungezählten Wiederholungen am Schreibtisch beobachten, wie ein Bergsteiger mit endlosen Überschlägen von einem Felsabsatz zum nächsten, über Eisfelder und Coulloirs bis an den Wandfuss fällt und zuunterst als blutiger Knäuel aus Knochen, Fleischteilen und Stofffetzen im Geröll aufschlägt. Hobbyfilmer halten ihre Handykamera oft erstaunlich ruhig auf Stürzende.

In diesem Buch gehe ich nicht nur dem Tod der Bergsteiger nach. Ich habe auch Antworten gesucht auf die Frage, warum Menschen überhaupt in diese Berge gehen. Warum sie, um auf einem Gipfel zu stehen oder durch eine Wand zu klettern, diese Lebensgefahr auf sich nehmen. Eine häufige Antwort auf diese Frage war, dass sich Bergsteiger nie so lebendig fühlen, wie wenn sie sich in der unmittelbaren Nähe des Todes bewegen. Das mag erstaunen, doch bei näherem Betrachten fand ich heraus, dass die beiden sich vermeintlich ausschliessenden Triebe des Menschen, der Lebenstrieb und der Todestrieb nicht nur ganz nahe beisammen liegen, sondern einander wie zusammengehörige und einander zudienende Grundprinzipien des Lebens sogar bedingen, somit einer der Triebe ohne den Andern nicht denkbar ist.
So wählt jedes der Kapitel seinen eigenen Blickwinkel und versucht, das Thema von möglichst vielen verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Im Kapitel 1 verfolge ich die Geschichte eines Lawinenunfalls vom Unfallzeitpunkt im Jahr 1983 bis heute. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wer dabei alles betroffen ist und wie ein schweres Unglück in den Medien behandelt wird. In den Kapiteln 2- 6 kommen durchschnittliche und extreme Kletterer zu Wort, aber auch Retter, Bergführer, Hinterbliebene und Opfer, die ihren Unfall überlebt haben. Ich bin auf einsamen Wanderungen in den Bergen auf Spuren von Unfällen gestossen und habe mich davon zu weiterführenden Gedanken leiten lassen. Weiteres Material stammt aus Archiven des DAV, SAC und OeAV und aus Bibliotheken.

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