Montag, 31. August 2009

27.8.09 Max Bietenholz


Vom Klausenpass steige ich Richtung Clariden auf, allerdings nur mit dem Ziel bis zum Gletscheranfang, dem legendären Iswandli zu gehen.

Der Weg führt zuerst über Grashänge und kuhfladengesättigte Rinderweiden. Bald lasse ich aber die bewirtschaftete Zone hinter mir und fange an, mit meinen Bergschuhen brüchigen Schiefer zu Lehm zu zertreten. Der Berg nimmt meine Spuren an und ich schwitze unter dem Diktat der Steilheit und der sengenden Sonne.
Ich folge Wegspuren, die hinauf zum Gipfel zu führen scheinen, ich wähle zwischen solchen, die eher nach Gemsspuren aussehen und solchen, die eher nach der Hinterlassenschaft eines Gewitters aussehen. Alles was bergauf führt ist mir recht. Der lehmige Anteil des zerkrümelten Schiefers klebt an meinen Schuhen, bis er getrocknet abfällt oder bis er von einem durchwateten Bächlein abgewaschen wird.
Auf den Schiefer folgt ein heller, schafkantiger Schrattenkalk, der nur in grossen Brocken bricht und sich lieber vom Wasser die weicheren Teile ausspülen lässt, als in Bruchstücke zerfallen zu Tale zu kollern. Dicht unter diesem Riff aus hellem Kalk, das eine Hinterlassenschaft der Kreidezeit ist, steht eine Tafel aus grünlichem Gneis mit einer Inschrift: Hier starb Max Bietenholz Kromer am 25. August 1960. Fast genau 49 Jahre bevor ich seinen Stein entdecke ist er an dieser Stelle gestorben. Kein Wort weshalb der Mann hier starb, keine Altersangabe erläutert den Tod, der hier Max Bietenholz eingeholt hatte. Lawinen gibt es hier im August keine, Steinschlag wäre denkbar. Dass ein Stein weiter oben ins Rollen gekommen wäre und seinen Weg über das kompakte Kalkriff hinunter in vielleicht grossen Sprüngen kullernd und von weitem lustig anzusehen kleine Steine mit sich in die Tiefe reissend vielleicht den halben Hang in Bewegung setzend zu Tale gedonnert wäre. Ein schwefelstinkender Umzug aus Kalkbrocken, Schieferplatten mitrutschend und in der Luft Kapriolen schlagend, ein Ungetüm von Bergsturz vielleicht, das genau darauf aus war, den Max Bietenholz, der hier einen Spaziergang vom Pass aus machte, vielleicht mit Hund und Frau, die ledig Kromer geheissen hatte, oder mit Enkelkindern oder Schwiegertochter, ja wer weiss denn die Umstände, unter denen Max Bietenholz hier vom Tod ereilt worden ist. Am 25. August 1960. Jedenfalls war es seiner Familie wert, den Ort zu bezeichnen, dass ihr Max Bietenholz nicht an irgendeinem Ort auf der Welt gestorben ist sondern auf dem Weg zwischen Klausenpass 1948 m.ü.M. und der Planurahütte auf 2947 m.ü.M. oder dem Clariden Gipfel auf 3191 m.ü.M. Die Art, wie der Mann den Tod fand war der Familie nicht wichtig zu vermerken. So sachlich wie die Grafik der Schrift, in bester Manier der 60 Jahre des vergangenen Jahrhunderts, so sachlich wird die Tatsache des Todes an dem Ort vermerkt, wo dieser den Max Bietenholz ereilt hat. Ist er im Aufstieg vom Tod ereilt worden oder auf dem Abstieg? Hatte er eine glückliche Woche in den Bergen verbracht oder ist er zu einer solchen aufgebrochen mit dem Ziel, die finstere Westwand des Tödi zu durchsteigen? Oder ist er einfach nur vom Pass aus spaziert? Ist er wirklich von einem Stein erschlagen worden oder war es ein Unglück für das der Berg nicht verantwortlich gemacht werden kann? Hat ihn ein schneller Herztod niedergestreckt? Herzschlag statt Steinschlag? Oder war es eines der lärmenden Gewitter, die sich an schwülen Sommerabenden vom Schächental hinüber zum Urnerboden und nachts zurück kämpfen und die Berghänge mit ihrem brüllenden Donner erzittern lassen? Ein Blitz, dem es nicht genug war, in einen Felsen zu schlagen, sondern ein Blitz, der ein Denkmal wollte, und zu diesem Zweck den Max Bietenholz erschlug? Ihn vielleicht verbrannte, bis vom Max Bietenholz nur ein rauchender Haufen Asche blieb? Ich finde keine Lösung, Stein-, Herz- oder Blitzschlag sind möglich.
Nachdem ich neben dem Stein stehend einen Schluck aus meiner Flasche genommen habe, steige ich weiter über Felsstufen und Schuttfelder höher und höher. Die wackersten Urner sind die Steinmänner, die mir hier oben den Weg weisen und die auch im Winter tief eingeschneit, in einem eisigen Kleid Wache halten. Ich begrüsse jeden einzelnen der steinernen Gesellen und merke mir seinen Ort und sein Aussehen, um entlang ihrer losen Reihe den Abstieg auch zu finden, wenn Nebel den Berghang verhüllt. Mir scheint, ein lockerer Geselle wandere mit mir den Berg hinauf, ich kann ihn nicht sehen, doch scheint mir, da sei jemand. Ich spreche ihn an, doch gibt er keine Antwort. Ich nenne ihn Max Bietenholz, es schient ihm zu passen, und ich lasse ihn mit mir steigen. Wenn ich zu ihm spreche bleibt er stumm, doch bekomme ich den Eindruck, dass er durchaus zuhört. Ich erzähle ihm alles was ich vom Berg weiss, und er lässt mich erzählen, obwohl er die meisten Geschichten vom Berg wohl besser kennt als ich. Der gangbare Grat hinauf ins Chamlijoch wird immer schmaler und furchteinflössender. Gähnende Trichter öffnen sich zu beiden Seiten des Grates und scheinen den Bergsteiger in die Tiefe ziehen zu wollen. Hier stürzen jeden Winter Skifahrer, die nicht sorgfältig, wie auf Messers Schneide den Berg immer auf dem höchsten möglichen Punkt hinunterfahren in die Tiefe des Schächentals oder auf die Glarnerseite, die auch zu Uri gehört, den Urnerboden, der dort in der Höhe noch eine wüste Hochebene bildet. Des Tüfels Friedhof, heisst der gottlose Platz wo unter der abweisenden Nordwand des Clariden kein Gras wächst und wo herunterdonnernde Eistrümmer den ganzen kurzen Sommer lang das Grünwerden verhindern. Dort hinunter ist schon mancher Skitourenfahrer gestürzt und hat einen sicheren und schnellen Tod gefunden. Nach einigen hundert Metern Sturz im sehr steilen Gelände, über die vereisten Felswände und schafzackigen Schrofen hinunter auf die unbarmherzige Ebene steht keiner mehr auf. Neben mir geht schweigend der Geist von Max Bietenholz, ich plaudere mit ihm, ich weiss nicht, ob er sehen kann, was ich sehe, oder ob der Blitz, der ihn vielleicht erschlagen hat die Augen verbrannt hat, und so bleibe ich mit ihm in lockerem einseitigem Kontakt. Ich zeige ihm den Weg durchs Geröll und frage ihn, ob er schon hier war, bevor er dort unten auf 2200 Metern zu Tode gekommen ist. Er gibt keine Antwort, geht aber wacker mit und braucht bis hinauf zum Iswandli keine Verschnaufpause. So ein leichtes, flüchtiges, körperloses Wesen hat auch seine guten Seiten, denke ich, er braucht kein Wasser, muss sein schweissnasses Hemd nicht im kalten Wind der Höhe trocknen, muss kein Dörrobst mit sich tragen, lebt von der Luft, die immer gut und frisch ist, kann sich an der Sonne wärmen, wenn ihm danach zu Mute ist.

Der Blick hinüber zur Nordwand zeigt Erstaunliches. Statt unnahbar wie von unten zeigt sie sich hier auf Augenhöhe sozusagen zugänglich. Sie öffnet sich dem Betrachter und als wollte sie zu einer Eisklettertour einladen zeigt sie ihre Wölbungen, ihre steilen und weniger steilen Seiten. Nach einem eisigen Couloir im untern Teil legt sie sich etwas zurück und bietet dem ehrgeizigen Bergsteiger eine weisse Decke aus Firn an, die mit sicheren Tritten und guten Steigeisen wohl ohne grossen Sicherungsaufwand durchstiegen werden kann. Sie lockt, als wollte sie Besuch bekommen, wie eine Gaststube, die ihre Vorzüge auf die Hauswand schreibt. Hier gibt es flottes Eis. Hier kannst Du ein Held werden. Hier ist eine schöne Alternative zu meinem viel begangenen Nordgrat. Hier schaue ich rüber, vom Nordgrat zur Nordwand und entscheide mich nach einer kurzen, einseitigen Unterredung mit Max Bietenholz, auf dem Grat zu bleiben und den Weg bis hinauf zum Gletscher zu gehen und dann der Vernunft und ihren Wegweisern folgend wieder abzusteigen. Es gibt noch einige steile Stellen, die ich hinaufgehe, zum Teil mich mit den Händen an brüchigen Steinen festhaltend. Max Bietenholz bleibt immer an meiner Seite. Wortlos, aber ich fühle seine Gegenwart in der Gebirgseinsamkeit. Nach einer Steilstufe im Grat sehe ich am Horizont den Gletscher leuchten, hoch schwingt er sich über mir in den Himmel. Das Iswandli, an dem die Erstbesteiger 1853 mit ihren langen unpraktischen Eispickeln viele Stunden mühsame Hackarbeit verrichtet haben, bis ihnen die einer Tigerpranke ähnelnde Faust des Gletschers, die hier vom Chamlijoch hinunter ins Tal zu den Kühen auf der Alp einen eisigen Griff wagte, bis diese Tigerpranke mit so vielen Tritten versehen war, dass die Männer mit ihren genagelten Schuhen ohne Steigeisen, weil es diese noch nicht gab und erst noch erfunden werden mussten, genug Halt im steilen Eis finden konnten, dass sie darüber hinweg auf den flacheren Teil des Gletschers dringen konnten, und den Clariden Gipfel in weniger als zwei Stunden ohne weitere Schwierigkeiten bestiegen. Heute ist die Tigerpranke verschwunden, der Gletscher legt sich zurück, er ist sozusagen in Ruhestellung und sogar zu flach um noch blauschimmernde Eisstücke von sich ins Tal hinunter zu werfen und Wanderern und Kühen einen Schrecken einzujagen. Er hat aufgehört, sich donnern zu schälen, das äusserste Eis ins Tal werfend den Schmutz und Schutt, der sich auf seinem weissen Panzer angesammelt hat loszuwerden. Was einst bedrohlich hier oben gehangen hat und über Jahrtausende den Fels geschliffen hat, und was für pickelnde Alpinisten eine Herausforderung gewesen ist, lässt sich heute im Winter mit Ski überschreiten, ohne dass man den Übergang vom Felsgrund zum Gletscher unter der Schneedecke auch nur spürt. Ganz in der Nähe des Gletscherzunge ist ein Rettungsschlitten in einer Aluminiumschachtel verpackt und senkrecht auf den Fels gestellt, um im Winter, wenn an guten Tagen hunderte von Skitourenfahrern den Berg hochsteigen und dann über die verführerischen Hänge in flottem Tempo hinunter fahren, pulverscheestiebend sich einen Weg durch die menschenfressenden Trichter suchend, wenn diese Skitourenfahrer bei einem Sturz sich verletzen und nicht aus eigener Kraft den Weg ins Tal finden können, dann werden sie mit gebrochenen Beinen, mit ausgerenkten Schultern und verdrehten Knien auf den Schlitten gezurrt, wie eine Wurst gebunden und mit Decken gewärmt, damit sie nicht erfrieren und so ins Tal gefahren, damit nicht noch viele solche Tafeln hier zu stehen kommen wie die für Max Bietenholz. Max Bietenholz zeigt keinerlei Zeichen von Unruhe. So wie ihn der Aufstieg nicht ausser Atem gebracht hat, bleibt er auch ruhig, als ich an dem Rettungsschlitten vorbei bis an den Rand des Gletschers schreite. Max Bietenholz ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Die 49 Jahre, die seine Seele schon hier oben am Klausenpass wohnt, haben ihn an alles gewöhnt, aber ich habe den Eindruck, dass er sich über die Wanderung mit mir freut. Eine Gruppe englischer Bergsteiger ist dort oben damit beschäftigt, sich anzuseilen, doch wir wundern uns, wie umständlich sie das tun. Keiner weiss so recht, was wohin gehört, und in welcher Reihenfolge sie sich einbinden sollen. Ihr Weg soll sie von der Gletscherzunge in zwei Stunden zur Planurahütte führen. Ich setze mich auf einen Felsen und geniesse den Blick in die Runde. Die Jägerstöcke auf der anderen Talseite umgeben sich mit einem Wolkenkranz, die Silberen, die das Muotathal vor meinem Blick versteckt, hat sich schon eine dicke Nebeldecke übergezogen und wie ein riesiger Mahlzahn schabt die Grosse Windgälle an der Wolkendecke, die langsam von Westen her den Himmel überzieht. Nach einigen Bissen Brot, etwas gedörrtem Obst und guten Schlucken Wasser nehmen ich den Abstieg unter die Füsse. Jetzt geht Max Bietenholz vor mir her, er weist mir den Weg, er ist ja hier zuhause seit dem 25. August 1960 und kennt sicher jeden Stein. Sicher führt er mich über die steilen Hänge, durch brüchige Bänder und durch das kleine Labyrinth aus ausgewaschenem Schrattenkalk, bis wir wieder bei seinem Gedenkstein angelangt sind. Er scheint sich von mir zu verabschieden. Ich sage ihm auch Adieu und bedanke mich für die Begleitung. Dann nehme ich nochmals einen Schluck aus meiner Flasche, schütte den letzten Rest vor seinen Stein und springe locker die letzten 25o Höhenmeter hinunter zum Klausenpass, wo mich mein Auto erwartet.

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