Mittwoch, 26. August 2009

Eine Predigt zur Abdankung eines Bergsteigers

Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge."
Reinhold Stecher
http://www.we-wi-we.de/predigten_tod_am_berg.htm#Ablauf der Liturgie
Aufbruch.

Abschiedsfeier für Hans Maes
erfroren am 13.-14. September 1998
am Pößnecker-Klettersteig-Sella in Wolkenstein/Gröden
Eucharistiefeier in der Kapelle der KHG Düsseldorf
am 25. September 1998

Lukas 24, 13-35: Die Emmaus-Jünger

Ablauf der Liturgie
Meditative Orgelmusik
Evangelium nach Lukas
Lukas 24, 13-35: Die Emmaus-Jünger
Wir gehen schweigend zum Friedhof Stoffeln.
Begrüßung
Rüdiger Kerls-Kreß, KHG Düsseldorf
Lied
Meine Zeit steht in deinen Händen
Vor Friedhofskapelle wir grüßen Hans Maes zu seinem letzten Aufbruch
Liturgische Eröffnung
Predigt
Gebet am offenen Grab
Lied [GL 621]
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr Lied zur Gabenbereitung
Wenn das Brot, das wir teilen
Symbole
Wasser, Weihrauch, Erde, Kreuz
Gebet [ commUNity 17.09.98 ]
Sanctus-Lied [GL 469]
Gebet für Verstorbene und Lebende
Lesung
"Die schwersten Wege für R. H." von Hilde Domin
Schlussgebet
Ich werde nicht sterben
Abschließendes Segenswort
Lied
Von guten Mächten treu und still umgeben
Lied
Christ ist erstanden
Segen
Irische Segenswünsche


Renata, lieber Rafael,
verehrte Eltern L. und H. M., liebe Geschwister von Hans,
verehrte Eltern H. und O. V.,
lieber Christian und liebe Geschwister von R.,
liebe Verwandte und Freundinnen und Freunde von H. und R.,
queridos amigos argentinos,
liebe Studierende und Kolleginnen und Kollegen der KHG Düsseldorf,
Schwestern und Brüder im Glauben!

"Und sie brachen in derselben Stunde auf" so haben wir am Ende der Geschichte der Emmaus-Jünger gehört. "Aufbruch" ist auch das Thema, das Du, R., der Todesanzeige für H. vorangestellt hast, als Über-Schrift über die Sella-Gruppe, wo H. in den späten Stunden des 13. Septembers schlafend erfroren ist. Den Gipfel des Puiz Selva mit gut 2.900 m hatte H. am frühen Nachmittag hinter sich gelassen, im Gipfelbuch steht sein Name. Dass H. damit auch den Gipfel seines Lebens überschritten haben sollte, konnte an diesem strahlenden Sonntagmorgen keiner von uns ahnen. Die Zeit am Gipfelkreuz des Puiz Selva wurde so für H. zur Vigilfeier des Festes "Kreuzerhöhung", das die Kirche am 14. September feierte. Im Kreuz ist Sieg, im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben. Das Gipfelkreuz ist Ausdruck dieses Glaubens.

Diese Fest-stellung lindert nicht den Schmerz, bemächtigt nicht die Ohnmacht, hebt Wut und Trotz nicht auf, ist aber das "Trotz-dem", e i n e mögliche Antwort des Glaubens, gleichsam ein geistlicher Karabinerhaken. Die Emmaus-Jünger nehmen ja auch Reißaus vor dem Kreuz, kehren der Stadt des Kreuzes den Rücken zu, begreifen das Zeichen des Kreuz nicht. Unterwegs reden sie miteinander, lassen einander teilhaben an der jeweiligen Verständnislosigkeit. In ihrer Hoffnungslosigkeit suchen sie Sicherheit in der Rückkehr zum Alten, Vertrauten, Gewohnten. Sie, die Jesus so nahe waren, haben ihn noch nicht begriffen, konnten ihn noch nicht begreifen. Auch ein Thomas vertraute nicht dem Wort, Er ist auferstanden. Thomas wollte berühren, um zu begreifen. Das Kreuz kann zunächst Angst machen.

Wir HochschulseelsorgerInnen haben auch viel geredet in diesen Stunden und Tagen in Brixen, seit wir fest-gestellt hatten, dass H. aufgebrochen war. Wohin war er aufgebrochen? Warum war er aufgebrochen? Wozu war er aufgebrochen? Dass es der verbindliche und letzte Aufbruch werden sollte, wusste H. nicht. Denn in seinem Zimmer 347 im Priesterseminar in Brixen lag noch ein Südtiroler Fladenbrot, ein Stück Käse, zwei Flaschen Schweppes Tonic für eine zweite Bergtour am Montag. Ab Montag Abend wollte er an der Tagung der Konferenz für katholische Hochschulpastoral teilnehmen. Bei der Eröffnung der Tagung vermissten H. einige wenige Kolleginnen und Kollegen. Dann fehlte H. einfach allen TeilnehmerInnen. Wir blieben traurig stehen, vereinzelt, in kleinen Gruppen, während die Tagung zum Gehen kam. Wir konnten die "Botschaft der Berge" [Reinhold Stecher] noch nicht begreifen. Wir hatten nichts zum Begreifen.

Abstrakt und bibeltheologisch weiß ich, dass durch die Heilsgeschichte hindurch Berge die Orte sind und waren, an denen Gotteserfahrungen sich ereigneten und ereignen können: der Berg Horeb, der Berg Carmel. Jesus selbst betete immer wieder auf einem Berg. Und Jesus führte seine Jünger auf dem Weg nach Jerusalem auf einen Berg, den Berg der Verklärung, um ihnen eine Idee, eine Anschauung dessen zu geben, was über Leid und Kreuz hinausweist. Und viele von euch wissen das alles auch.

Da ist dann aber auch die existentielle Begegnung mit dem Berg. Jene körperliche Anstrengung, die physische Erschöpfung, die geistlichen Gewinn bringt: das Hintersichlassen des Alltags, das freie und tiefe Atmen, der Blick aus der Höhe und der Blick in die Tiefe. Das Grenzenlose zwischen Himmel und Erde spüren, wenn Wolken mich einhüllen und Wind durch die Poren die Haut neu zu beatmen scheint. Dem Grenzenlosen unendlich nah: Gott.

"Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge." Reinhold Stecher, der Altbischof von Innsbruck, stellt diese Aussage an den Beginn seinen meditativen Buches "Die Botschaft der Berge".

Aufbruch in den Berg heißt immer, etwas hinter sich zu lassen, etwas unter sich zu lassen, sich auszustrecken nach oben, sich dem Unnahbaren zu nahen.

H. hat darum gewusst, hat daraus gelebt, dass der Unnahbare Gott, sich uns genähert hat: in Jesus von Nazareth. Und H. wusste um das Kreuz als Ärgernis und Torheit und um das Kreuz als Zeichen des Heils. In seiner Bibel [gezeichnet "3.8.1981 H. M."] hat er aus unserem Emmaus-Evangelium den Satz unterstrichen: "Wahrhaftig, der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen!" Diese befreiende und frohmachende Botschaft wurde den Emmaus-Jüngern zugesprochen, nachdem sie aufgebrochen sind. Aufbruch eröffnet neue Horizonte, ermöglicht Erfahrungen, führt zur Begegnungen mit anderen, bildet Gemeinschaft.

Aufbruch ist immer riskant. Aufbruch ist die Einladung, Gewohntes, Vertrautes, Routine hinter sich zu lassen. Aufbruch ist Quelle neuen Lebens.

Der Aufbruch in den Pößnecker-Klettersteig kann als Gleichnis zur Anfrage an uns als Einzelne, als Hochschulgemeinde, als Kirche werden. Der Berg als Gleichnis deines, meines, unseres Glaubenslebens. Als geistliche Herausforderung für das Leben, für das Leben danach, für das ewige Leben.

Da gibt es viele Glaubenslandschaften, die bequem mit dem Auto, dem Bus erreichbar sind, auch wenn sie nicht auf unserem Lebensweg liegen. Geistliche Verkehrsmittel gibt es zahlreiche. Als geistlicher Tourist kann ich sie umfahren, hinter dem Fenster vorbeiziehen lassen und zurückkehren mit den Bildern einer blühenden und faszinierenden Landschaft. Geistlicher Massentourismus ist Mode: [fast] zum Nulltarif, sicherlich keimfrei, kaum langfristig ansteckend.

An einigen Stellen gibt es Haltepunkte, um den Glaubenslandschaften direkt und unvermittelt zu begegnen. Oft haben wir aber wenig, zu wenig Übung, geistliche und körperliche, um den Haltepunkt zum Ausgangspunkt für einen Aufbruch zu nehmen. Wir lassen uns beeindrucken von den Rastplätzen und Kaufbuden, wo uns geistliche Andenken wohlfeil angeboten werden. Das geistliche Geschäft scheint zu blühen, zumindest treibt es Blüten, manchmal auch Blüten in die Kassen.

Mancher Wallfahrer mutet sich auch einen Spaziergang in der neu entdeckten Glaubenslandschaft zu. Da gibt es Angebote für den Mann mit Birkenstock-Sandalen und die Frau mit dem eleganten italienischen Schuh. Sie erfreuen sich an den satten Weiden des Glaubens und stolpern, wenn die amtlich asphaltierten Wege in das Unterholz führen. Dann wird auch das geistliche Leben so erschreckend konkret und wirklich, da gibt es viel Schatten und kühle Brisen kühlen den strahlenden Übermut manches Schönwetterchristen.

Einige haben schon Erfahrungen mit geistlichen Übungen und wissen, dass es ohne geistliches Rüstzeug keine Gotteserfahrung am Berg gibt. Sie finden wir dann auf den ansteigenden Bergwegen, wo Wurzeln und Steine den raschen Schritt bremsen und unerwartete Wasserläufe zu scheinbaren Umwegen führen. Solche Menschen leiden am Raubbau, auch dem geistlichen, den andere und Institutionen in der geistlichen Landschaft betreiben. Da werden geistliche Rennbahnen durch schützenswertes geistliches Gelände geschlagen, mancher keimende geistliche Trieb wird betoniert und fällt der Begradigung zum Opfer.

Nicht wenige Menschen verfügen über eine geistliche Grundausstattung, die es zulässt, sich in größeren Höhen der Glaubenslandschaften sicher zu bewegen, wenn geistliche Klettersteige als Hilfestellungen geboten sind. Da braucht es dann Gurte und Haken, geeignete wetterfeste Kleidung, eine Notration gegen geistliche Dürre und seelischen Hunger. Und es braucht das Vertrauen, dass andere den Klettersteig pflegen und hegen, dem ich mich anvertraue. Ausdauer ist erforderlich und der Mut, umzukehren, wenn ein geistlicher Klettersteig beim ersten Male zu anstrengend ist, meine Vorbereitung nicht ausreichend, oder geistliche Wetterlagen das Leben bedrohen können. Der Lohn der geistlichen Anstrengung ist eine geschenkte Nähe zu sich selbst, das Mitfühlen mit und in der Schöpfung, das Anwehen des Geistes, den wir den Heiligen Geist nennen. Der Lohn der geistlichen Anstrengung ist auch eine geistliche Weite, die viele engen Täler relativiert und der Vielfalt des alltäglichen geistlichen Lebens Raum lässt.

Für viele ist es dann eine Überraschung, dass es sich in den geistlichen Höhen wohl leben lässt, dass es Räume gibt, die zum Verweilen einladen, dass es Ruhe, Sonne und Wärme gibt und eine Fülle an Farben, an die sich die geistlichen Augen nur langsam gewöhnen. Da kommt dann die Versuchung, die uns Markus in seiner Verklärungsgeschichte überliefert. Der Petrus, der Fels, will drei Hütten bauen, will sich niederlassen, will die Höhe festhalten. Markus bemerkt in seiner sympathisch-frechen Art, der Petrus wusste halt nicht, was er reden sollte.

In diesen Höhen geistlichen Lebens drohen auch Gefahren, globale Klimaänderungen, lokale Gewitter und nicht wenige hausgemachte Probleme drohen. Statt vorhandene Klettersteige zu hegen und zu erhalten, werden sie für den geistlichen Massentourismus bereitet. Die Freiräume zwischen den Sicherungen werden enger gesetzt, Wege ohne Grund umgeleitet, gekannte und vertraute gefährliche, aber freimachende Grate, werden großräumig umgangen. Manchem hauptberuflichen Bergwächter sind die zu gehenden Wege, die begehbaren Wege und die neu zu schaffenden Wege selbst nicht [mehr] vertraut. Sie gleichen Petrus, der auf dem Gipfel des Glaubens einmal angekommen meint, durch das Hütten auf dem Berg könnte Himmel und Erde zusammengehalten werden. Und diese Bergwächter gibt es nicht nur in den geistlichen Höhen einer Sella-Gruppe, die finden wir auf den Sandhügeln unserer Städte und Dörfer, die finden wir, wenn wir nur genau hinsehen, sogar auf unserem jeweiligen geistlichen Misthaufen vor der eigenen geistlichen Hütte.

Es folgt aber auch für einen geistlichen Hochleistungssportler der Abstieg vom Gipfel, der Weg nach unten in die anderen Wirklichkeiten des Lebens. Selbst dem geistlichen Spaziergänger bleibt dieser Weg von seinem Gipfel hinab nicht erspart.
Und beim Aufbruch nach unten, in das "wirkliche" Leben, da erklärt Jesus seinen Jüngern, er müsse leiden, er werde am Kreuz sterben, aber er werde auferstehen am dritten Tag. Es sollte der Ölberg sein, wo sein Leidensweg beginnt, ein harmloser Hügel vor den Toren von Jerusalem. Und auf einem anderen Hügel, der Schädelstätte, stehen die Kreuze, die Schandmale seiner Zeit. Erreichbar für jeden geistlichen Voyeur. Sein Kreuz wird in der Mitte zwischen zwei anderen stehen. Der Himmel schwarz! Sein Leben zu Ende!

Warum also nicht Jerusalem den Rücken zu kehren, wie es die Emmaus-Jünger taten? Warum nicht über das Unfassbare reden? Warum nicht verwundert sein, wenn andere scheinbar ahnungslos sind? Jesus, der Erhöhte und Auferstandene, holt seine irritierten, hoffnungslosen Jünger ein. Er bricht ihnen das Brot. Daran erkennen sie Ihn. Und sie sind fähig zum Aufbruch.

Auch R. und wir alle waren irritiert und hoffnungslos und orientierungslos, als wir den aufgebrochenen H. suchten. R.s Schmerz und der unsere machten uns sprachlos und hilflos und wir redeten oft so irr und wirr, wie die Jünger von Emmaus. Ich spürte, dass Sein Kreuz mein Kreuz belastete und mein Primizspruch "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" [1 Petr 3,15] mindestens einige geistliche Schuhgrößen zu weit war.

Die schrecklich befreiende Nachricht, dass der leblose Körper von H. gefunden sei - es war am 17. September, dem Fest der Heiligen Hildegard - , setzte bei uns geistliche Energien frei. Wir trotzten Gott mit einem trotz-dem. Wir lassen Gott nicht aus der Pflicht. Wir muten uns Ihm wieder und wieder zu. Ja, mehr noch: wir danken ihm trotz-dem.

Deshalb feiern wir heute in der Eucharistie das Letzte Abendmahl, feiern Seinen Tod und Seine Auferstehung und Sein Versprechen, dass Er auch unseren Tod nicht will, sondern uns vorangegangen ist, um Wohnung zu bereiten. Und wenn jemand hier unter uns ist, der zweifelt, der sich sorgt, es könnte doch Vertröstung sein: schau auf Thomas! Der fragt Jesus ganz offen: Wohin gehst du und wie kommen wir dorthin? Und Jesus antwortet ihm: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Und das glaube ich, mit Trotz und trotzdem, dass H. am Berg erfroren ist, weil der Schnee und die Kälte ihn umhüllten. Trotzdem, mit Trotz und in Hoffnung.

Da liegt für mich die "Botschaft der Berge", die uns H. wahrzunehmen nötigt durch seinen Tod: Habt den Mut zum Aufbruch! Macht Euch auf den Weg in geistliche Höhen! Aber trainiert und achtet auf euer geistlichen Rüstzeug. H. hatte sich eine lange Liste angelegt, was er nach Brixen mitzunehmen hat, damit der Aufbruch gelingt. Brechen wir auf: in seiner Familie, in der KHG Düsseldorf, in der Kirche in Deutschland, in der Ökumene, einfach: wagen wir einen Aufbruch in die vielfältigen geistlichen Landschaften unseres Glaubens an den Auferstandenen.

Am Anfang hatte ich drei Fragen gestellt, auf die ich euch und mir die Antworten schuldig geblieben bin. Es sind Versuche einer Antwort, weil H. mir Bilder für eine Antwort nahe gelegt hat, die ich mit meinen Augen lese.

Wohin war er aufgebrochen? Die Antwort kennen wir vom Ende des Aufbruches her: in den Pößnecker-Klettersteig der Sella in Wolkenstein/Gröden. Den Weg von H. könnt ihr nachvollziehen auf dem Bild des Liturgieblattes.
Warum war er aufgebrochen? Die Antwort hat H. sich selbst gegeben mit einem von zwei Zeitgutscheinen, die er beim comUNIty-Gottesdienst am 12. September 1998 sich selbst geschenkt hatte: "Zeit für die Natur, ihre Farben, Gerüche, Geräusche wahrnehmen". Die konnte H. beim Aufstieg in vollen Zügen genießen.

Wozu war er aufgebrochen? Ob H. dazu den zweiten Zeitgutschein eingelöst hat, kann ich nicht beantworten, das bleibt sein Geheimnis. Auf dem zweiten Zeitgutschein steht: "Zeit, die ich brauche, um zur Ruhe zu kommen".


Gott schenke H. die ewige Ruhe!

Und Du, H., begleite unsere geistlichen Aufbrüche und warne uns, wo Frost und Eis, Schnee und Kälte in unserer, deiner Kirche das Leben von unten bedrohen. Bitte den Parakleten, den Beistand, den Tröster, dass er uns in dieser Stunde nahe ist. Aber noch mehr in den Wochen und Monaten, die folgen, dass dein Tod uns nicht lähmt, deine Aufbrüche auf unsere Weise weiterzuführen. Amen.

Lesung
"Die schwersten Wege für R. H." von Hilde Domin

Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehn
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.

Eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen -
und du ihre Stimmen wieder hörst
nahe
bei deinem Herzen.

aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1987, S. 118-119

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