Donnerstag, 10. September 2009



Chrüz St. Antönien. 9.9.09

Mehr als 26 Jahre nach dem Unfall am Chrüz vom 27.2.1983 gehe ich mit meiner Studienkollegin Gabriele zum Chrüz, wo sich zwei schwere Lawinenunglücke ereignet haben.
Beachte das Interview mit Raimund und Erika Steinhoff in diesem Blog.



Die Tafel, die die Sektion Konstanz DAV hat anbringen lassen, erinntert auch an die Opfer des Unglücks von 1947.

An dem verhängnisvollen 27. Februar 1983 stieg ich mit einer Gruppe von St. Antönien auf.
Der Lawinenbericht fürs Wochenende war im damaligen System der Gefahreneinstufung auf Stufe 3. Mässige örtliche Schneebrettgefahr. Kammnahe Steilhänge mit Triebschneeansammlungen können zu vereinzelten Lawinenabgängen führen. Unter dieser Gefahrenstufe gab es die Stufe 1: Keine Lawinengefahr, die gibt es nur, wenn kein Schnee liegt, und geringe örtliche Lawinengefahr. Die wurde nur an ganz wenigen Tagen pro Jahr erklärt, in manchen Jahren gar nie.
Eine weitere Schwierigkeit der Gefahrenabschätzung war, dass die Bulletins des Schweizerischen Instituts für Schnee und Lawinenforschung in Davos sich nur auf Gelände unter 2500 m.ü.M. bezogen, Skitouren aber häufig über diesem Bereich durchgeführt werden. Bei der gegeben Einstufung des Institutes hätte also eine nach alpinistischen Einschätzungen geringe Gefahr herrschen sollen, eine Lawine auszulösen. Doch dann kamen zwei Faktoren ins Spiel, welche die Sachlage grundlegend veränderten:
1. liegt die Mulde am Chrüz nach NO gerichtet, bekommt im Winter nie Sonne, so dass sich die Schneedecke nicht verfestigen kann. Durch die NO Lage wird bei Westwind Triebschnee, der eine sich schlecht verbindende kugelige Struktur hat, in die Mulde eingeweht, wo sie an den Hängen im Luv, der vom Wind abgekehrten Seite des Berges, liegenbleibt. Dadurch erhöht sich die Gefährlichkeit zusätzlich.

Auf dieser Karte habe ich den Aufstiegsweg und den Bereich eingezeichnet, wo die Lawine abgegangen ist.

2. Am 27.Februar erreichte eine Warmfront die Alpennordseite, die Temperatur stieg gegen null Grad und heftiger Schneefall auf eine mit einer Eislamelle überzogenen Schneedecke verlangten nach einer grundlegenden Neubeurteilung.

Zwei von unserer Gruppe wollten sich an dem Tag auf dem Gipfel verloben. Bei der Alp Valpún treffen wir auf eine fröhliche Gruppe deutscher Skitourengänger, die wir vorher schon von weitem gesehen haben, wie sie in Einerkolonne eine Spur durch den Wald gezogen haben. Wir plaudern miteinander, machen Scherze und sprechen kurz über die Route. Dann steigen die Deutschen, die sich für den Westgrat entschieden haben im dichten Nebel und Schneefall weiter. Auch wir brechen kurz darauf auf. Der Neuschnee ist mit der Unterlage nicht verbunden, sobald ein Hang etwas über 30 Grad steil ist, rutscht er auf der eisigen Unterlage weg. Als wir auf dem Nordostgrat, wo der Neuschnee weitgehend weggefegt ist, etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, sieht unser vorderster Mann durch den aufreissenden Nebel, dass am Gipfel eine Lawine niedergegangen ist. Er geht etwas näher an den Gratabbruch und sieht jemanden mir einer roten Jacke, dessen Beine im Schnee stecken, auf einem riesigen Lawinenkegel um Hilfe rufen. Von seinen Kameraden keine Spur. Sofort versuchen wir zu ihm hinunter zu fahren, was aber in den steilen Hängen nicht geht, da diese sofort wegrutschen und drohen, auch uns zu verschütten. Wir müssen eine kleine Strecke zurück abfahren und dann wieder aufsteigen. Dabei geht wertvolle Zeit verloren. Wir schicken zwei gute Skifahrer ins Tal, um Hilfe zu organisieren. Von unserer Gruppe sind einige nicht in der Lage, sich um de Verletzten zu kümmern, sie sind zu sehr geschockt und bräuchten selber Betreuung. Als ich selber zur Unfallstelle komme, hat der erste, der sich selber befreien konnte, schon einen Kameraden soweit freigelegt, dass er atmen konnte, und bei einem weiteren hatte er angefangen den Kopf auszugraben. Bald finden wir mit den Verschüttensuchgeräten VSL weitere Verschüttete und graben sie mit den Lawinenschaufeln, die zu jeder Skitourenausrüstung gehört, aus. Nur die ersten drei haben noch eine spontane Atmung, die nächsten haben schon Herz- und Atemstillstand. Alle haben den schweren Schnee in Nase und Mund gedrückt, so war kein einziger Atemzug möglich. Einen Mann von diesen können wir ins Leben zurückholen, er fährt am Abend sogar mit dem Auto heim nach Konstanz.
Beatmen ist an toten oder tief ohnmächtigen Personen erstaunlich schwierig, da ihre Gesichtsmuskulatur ausweicht und keinen Widerstand gibt. Den Kiefer vordrücken, die Lippen aufeinander zu pressen, damit die Luft nicht durch den Mund entweicht und durch die Nase Luft in den Körper zu blasen ist viel schwieriger als im Erste Hilfe Kurs. Ausserdem kann man sich im klumpigen Lawinenschnee nicht richtig hin kieen, man bekommt in einer meist verdrehten Lage selber kaum Luft. Wenn ein Kollege dann für die Herzmassage dreimal nacheinander kräftig auf den Brustkorb des Verunfallten drückt, spritzt einem dessen Mageninhalt ins Gesicht. Nach kurzem muss ich mich gegen kräftigen Brechreiz wehren, doch ich kann die ganze Zeit über an mich halten. Wir haben vier Personen zu versorgen, bis jemand ruft, eine Person fehle noch. Ich stehe auf, und übergebe meinen Platz jemandem. Beatmen ist sehr anstrengend, man braucht Pausen. Mit dem VSL war schon gesucht worden, ohne Erfolg. Die Deutschen haben VSL des Systems Pieps, das auf einer andern Frequenz arbeitet, als das Schweizer Barryvox. Daher müssen wir mit ihren Geräten suchen. Pieps ist auch nicht so zuverlässig wie Barryvox. Da man im Lawinenschnee nicht richtige gehen kann und ständig einbricht und stürzt reisst es einem auch die Ohrhörer, die zum Pieps gehören aus den Ohren. Wenn man wieder steht, hat man die Richtung verloren, in der man gesucht hat und die Ohrhörer sind voll Schnee und geben kein klares Zeichen mehr her. Ich bin mir sicher, dass an einer Stelle noch eine Person liegt und fange rein von der Intuition gesteuert an zu graben. Bald stosse ich in der Nähe eines Person, die zwar noch grösstenteils verschüttet ist, aber selbständig atmet auch auf einen Skischuh, ich denke, der müsste zu dieser Person gehören, dann müsste sie aber das Bein sehr schmerzhaft verdreht haben. Doch bald zeigt sich, dass es die noch gesuchte Person ist.
Erst nach zwei Stunden kommt der Helikopter langsam durch den Nebel. Sofort springt ein Regaarzt aus der Maschine und kommt zu uns. Er sieht, dass es viel mehr Verletzte Personen gibt, als er erwartet hat, und fängt hektisch mit Untersuchungen an. Bei zwei Verschütteten sieht er noch Hoffnung auf Rettung, da ihre Pupillen noch auf das Licht seiner Taschenlampe reagieren. Seine Versuche zur Reanimation mit einem Defibillrator zeigen aber keine Wirkung, obwohl sich die Personen unter dem Stromstoss aufbäumen und die eine danach einen spontanen Atemzug andeutet.
Die beiden Personen, bei denen noch eine gewisse Hoffnung auf Rettung besteht, werden in den Helikopter verladen und fliegen mit dem Arzt ins Spital Schiers. Dort wurde dann später nur noch ihr Tod festgestellt. Wir sind wieder allein und müssen versuchen die verblieben Unfallopfer soweit es unsere Kräfte erlauben, weiter zu beatmen. Ein weiterer Heli kommt über die Krete geflogen und mit ihm ein Arzt aus dem Tal. Er ist ruhig, was auch uns eine gewisse Sicherheit und Ruhe zurückgibt, er fragt auch, wie es uns gehe, dann werden die Personen, die wir bis dahin unter Aufbietung unserer ganzen Kräfte beatmet haben auf Bahren in den Helikopter geladen. Der Heli vom Typ Alouette 3 hat zwei Halterungen für Bahren, einige Mitglieder unserer Gruppe fliegen noch mit hinunter, einige fahren mit den Ski ins Tal. Dann kommt der Heli ein drittes Mal, wir laden den letzten Toten ein. Inzwischen hat der Arzt das Zeichen gegeben, mit Beatmen aufzuhören, da keine Aussicht mehr bestand, sie zum Leben zurück zu holen. Ich steige mit noch zweien ein und komme zu meinem ersten Heliflug. Das Wetter hat sich in der Zwischenzeit soweit gebessert, dass der Heli normal auch Sicht fliegen kann und sich nicht mehr wie beim ersten Anflug mit Hilfe eines Bauern aus der Gegend von Baum zu Baum tasten muss. Auf dem Parkplatz von St. Antönien landen wir. Eine Menge Leute steht dort und schaut uns betreten zu, wie wir den Toten ausladen und ins Hotel Weisses Kreuz hinüberbringen. Ein Dicker Mann in einer jagdgrünen Heli Hansen Jacke will fragen stellen, doch wir sind zu erschöpft um zu sprechen. Ein Mitglied aus unserer Gruppe nimmt uns zusammen und schirmt uns von Fragen ab. Im Hotel Weisses Kreuz werden wir versorgt, der Heli fliegt mit einem Polizisten zur Unfallstelle. Im Saal neben dem Raum. Wo wir verpflegt werden, liegen die Toten auf den Tischen. Ihre Gesichter sehen völlig entspannt und friedlich aus. Ich rufe meine Eltern an um sie zu informieren. Sie wissen schon, dass ein Lawinenunglück passiert ist, sind aber nicht beunruhigt, weil sie unserer Vorsicht vertrauen.
Am Abend fahren wir heim. Mit Postauto und Bahn.


Der Gedenkstein auf dem Chlei Chrüz erinnert an der Stelle, wo die Lawine abgegangen ist, an die beiden schweren Lawinenunglücke, die sich hier ereignet haben. Elf Menschen sind dabei umgekommen.

Nie hat jemand gefragt, wie es uns geht, ob wir die Eindrücke verarbeitet hätten. Ich träumte während Jahren von Bildern, der in der Lawine verschütteten und als ich einmal in einem Eisenbahnabteil Kotze roch, geriet ich in Panik. Einen oder zwei Sommer später ging ich mit meiner damaligen Freundin zur Unfallstelle in der Hoffnung, die Bilder würden davon erschwinden. Doch das half nichts. Nach 20 Jahren war die Tour aufs Chrüz bei unserer SAC Sektion auf dem Tourenprogramm. Da ging ich mit. Ich erhoffte mir nicht viel, aber als ich den Stein sah, der zur Erinnerung an das Unglück errichtet wurde, er ist wie eine ganz kleine Kappelle, und sah, dass im Giebelbereich bereits der Zahn der Zeit genagt hat, da fiel etwas von mir ab. Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Dieser eine Stein, der aus einem Giebel herausgebrochen ist, hat mich von den Albträumen erlöst. Seither habe ich nie mehr von dem Lawinenunglück geträumt.

Mit Gabriele plaudere ich beim Wandern und erzähle ihr was mir aus der Erinnerung aufsteigt.


Für mich ist es inzwischen ein normaler Berg geworden, mit einer speziellen Geschichte und einer nach NO gerichteten Mulde, die schon elf Menschen das Leben gekostet hat.

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