Sonntag, 18. Oktober 2009

Das Lawinenunglück vom Chrüz St. Antönien vom 27.2.1983

Konstanz und das Chrüz


Das Lawinenunglück am Chrüz bei St. Antönien vom 27.2.1983 und andere Unfälle


Der Bruder meiner damaligen Freundin wollte am 27.2.1983 auf dem Gipfel des Chrüz im Prättigau seine Verlobung bekannt geben, und lud zu diesem Zweck die Familie seiner Verlobten und seine eigene zu einer Skitour ein. Beide Familien waren den Bergen sehr verbunden, auch die älteren Semester waren geübte Skitourengänger. Niemand von uns konnte ahnen, was der Tag bringen würde.
Der Tag war für die Jahreszeit warm, dunkle Wolken hingen tief an den Bergspitzen, und liessen schwere, grosse Schneeflocken fallen. Wir fuhren ein Stück mit dem Skilift und verliessen ihn, bevor wir die Bergstation erreicht hatten. Dann bogen wir südlich ab, in Richtung Wald. Nach wenigen Metern Aufstieg entledigte ich mich meines Pullovers, allein die Windjacke gab warm genug. Der nasse Schnee hinterliess auf der Jacke dunkle Spuren, unter den Tragriemen meines Rucksacks wurde es bald feucht bis auf die Haut. Die Bäume standen locker in diesem Wald, man konnte ihn sowohl im Aufstieg wie in der Abfahrt problemlos durchqueren. Danach folgten einige Meter Abfahrt, allerdings lohnte es sich nicht, die Steigfelle von den Skiern zu nehmen, wir rutschten mit den Fellen hinunter in eine Senke um dann wieder aufzusteigen. Der Schneefall wurde hier oben stärker und es wehte ein heftiger Wind. Je höher wir stiegen, desto tiefer lag der schwere Neuschnee.
Bei der Alp Valpún trafen wir auf eine fröhliche Gruppe deutscher Skitourengänger, die wir vorher schon von weitem beobachtet hatten, wie sie in Einerkolonne eine Spur durch den Wald zogen. Wir setzten uns in den Windschatten der Alphütte und plauderten miteinander, machten Scherze und sprachen kurz über die Route. Dann stiegen die Deutschen, die sich für den Westgrat entschieden hatten im dichten Nebel und Schneefall weiter. Auch wir brachen kurz danach auf.

Die Lawine

Die Route liess zu, dass wir uns entweder auf Gelände bewegten, das weniger als die für Lawinen kritischen 30 Grad steil war, oder auf einer vom Wind schneefrei gehaltenen und von der Wärme etwas aufgeweichten Eislamelle. So bestand keine Gefahr für uns. Der Neuschnee war mit der Unterlage nicht verbunden, sobald ein Hang über 30 Grad steil war, rutschte er auf der eisigen Unterlage weg. Als wir auf dem weitgehend neuschneefreien Nordostgrat etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, sah unser vorderster Mann, es war Andy Weber, der sich verloben wollte, durch den aufreissenden Nebel, dass am Gipfel eine Lawine niedergegangen war. Er ging etwas näher an den Gratabbruch und sah jemanden mir einer roten Jacke, dessen Beine in einem riesigen Lawinenkegel steckten, um Hilfe rufen. Von seinen Kameraden sahen wir keine Spur. Sofort versuchten wir zu ihm hinunter zu fahren, was aber in den steilen Hängen nicht ging, da diese sofort anfingen wegzurutschen. Sie drohten auch uns zu verschütten. Wir mussten eine kleine Strecke zurück abfahren und dann wieder aufsteigen. Dabei ging wertvolle Zeit verloren. Wir schickten zwei gute Skifahrer ins Tal um Hilfe zu organisieren. Von unserer Gruppe waren einige nicht in der Lage, sich um die Verletzten zu kümmern, sie waren zu sehr geschockt und brauchten selber Betreuung. Als ich zur Unfallstelle kam, hatte der erste, der sich selbst befreien konnte, schon einen weiteren Kameraden soweit freigelegt, dass dieser atmen konnte und bei einem zweiten hatte er angefangen den Kopf auszugraben. Bald fanden wir mit den Verschüttetensuchgeräten VSL weitere Verschüttete und gruben sie mit den Lawinenschaufeln, die zu jeder Skitourenausrüstung gehört, aus. Nur die ersten hatten noch eine spontane Atmung, die nächsten hatten schon Herz- und Atemstillstand. Sie hatten den schweren Schnee in Nase und Mund gedrückt, so war ihnen kein einziger Atemzug möglich. Einen Mann, bei dem anfänglich keine Spontanatmung mehr festzustellen gewesen war, konnten wir ins Leben zurückbringen. Er fuhr am Abend sogar mit dem Auto heim nach Konstanz.

Beatmen bis zur Erschöpfung

Das Beatmen der Toten und der tief ohnmächtigen Personen gestaltete sich unvorstellbar schwierig, da ihre schlaffe Gesichtsmuskulatur dem Druck der haltenden Hände auswich und keinen Widerstand gab. Ich versuchte, ihnen den Kiefer vorzudrücken und die Lippen aufeinander zu pressen, damit die Luft nicht durch den Mund entweichen konnte, wenn ich Luft durch die Nase in den Körper blies. Doch es war viel schwieriger als im Erste Hilfe Kurs, wo ich an einer Puppe geübt hatte. Ausserdem wurden ihre Körper von der Last des Schnees zusammengepresst, so dass kaum Luft in den Brustkorb eindringen konnte bevor dieser freigelegt war. Wir konnten uns im klumpigen Lawinenschnee nicht richtig hinknien, ich bekam in einer meist verdrehten Lage selber kaum Luft. Ausserdem kam man sich ständig mit dem Kollegen der Herzmassage machte, mit den Beinen in die Quere. Die Verschütteten mussten ja mit Luft versorget werden, als sie noch tief in ihren Löchern unten im Schnee festgehalten wurden. Wir mussten kopfunter beatmen, das Blut schoss uns in den Kopf und wir mussten acht geben, nicht selber ohnmächtig zu werden. Wenn ein Kollege dann für die Herzmassage dreimal nacheinander kräftig auf den Brustkorb des Verunfallten drückte, spritzte mir dessen Mageninhalt ins Gesicht. Nach kurzem musste ich mich gegen kräftigen Brechreiz wehren, doch ich konnte die ganze Zeit über an mich halten. Wir wechselten uns ab so gut es ging, als ich einmal einem Verunfallten für die Herzmassage kräftig auf den Brustkorb drückte, knackte es unter meinen Händen, als ob ich einen Bund Reisig zerbrochen hätte. Ich muss ihm die Rippen gebrochen haben. Als ich es später dem Notarzt sagte, meinte er, das sei das kleinste Übel das passieren könnte und ich solle mir deswegen keine Gedanken machen.

Der letzte Verschüttete

Wir hatten vier Personen zu versorgen, bis jemand rief, jemand fehle noch. Ich stand auf, und übergab meinen Platz jemandem anderem. Das Beatmen strengte mich sehr an, ich brauchte eine Pause. Mit dem VSL war schon gesucht worden, ohne Erfolg. Die Deutschen hatten VSL des Systems Pieps, das auf einer andern Frequenz arbeitete, als das Schweizer Barryvox. Nur einzelne hatte das neueste Doppelfrequenzgerät. Daher mussten wir mit ihren Geräten suchen. Pieps war auch nicht so zuverlässig wie Barryvox. Da ich im Lawinenschnee nicht richtig gehen konnte und ständig in Löcher einbrach und stürzte, wurden mir auch die Ohrhörer, die zum Pieps gehören, immer wieder aus den Ohren gerissen. Wenn ich wieder stand, hatte ich die Richtung verloren, in der ich gesucht hatte und die Ohrhörer waren voll Schnee und gaben kein klares Zeichen mehr her. In den letzten Jahrzehnten wurden die Systeme wesentlich verbessert.
Ich war mir sicher, dass an einer Stelle noch eine Person lag, und fing rein von der Intuition gesteuert an zu graben. Bald stiess ich in der Nähe von jemandem, der zwar noch grösstenteils verschüttet war, aber selbständig atmete, auch auf einen Skischuh, ich dachte, der müsste zu ihm gehören, dann müsste er aber das Bein sehr schmerzhaft verdreht haben. Doch bald zeigte sich, dass es die noch gesuchte Person war. Sie steckte mit dem Kopf nach unten im Schnee, der Kopf war sicher zwei Meter tief verschüttet, die Nasen- und Mundhöhlen mit Schnee voll gestopft. Ohne grosse Hoffnung auf Erfolg versuchten wir sie zu beatmen und das Herz wieder in Gang zu bringen. Der Bruder der Braut, Matthias Greuter, stand am Anfang seines Medizinstudiums und forderte uns auf, alles Mögliche zu versuchen, sonst hätten wir uns vielleicht schneller mit dem Tod der Verschütteten abgefunden, so gaben wir alle unsere letzten Kräfte her. Matthias Greuter stürzte im Juli 2009 am Sustenlochspitz beim Klettern tödlich ab.

Das lange Warten auf den Helikopter

Erst nach zwei Stunden kam der Helikopter langsam durch den Nebel. Sofort sprang ein Regaarzt aus der Maschine und kam zu uns. Er sah, dass es viel mehr Verletzte gab, als er erwartet hatte, und fing hektisch mit Untersuchungen an. Bei zwei Verschütteten sah er noch Hoffnung auf Rettung, da ihre Pupillen noch auf das Licht seiner Taschenlampe reagierten. Seine Versuche zur Reanimation mit einem Defibillrator zeigten aber keine Wirkung, obwohl sich die Patienten unter dem Stromstoss aufbäumten und die eine danach einen spontanen Atemzug andeutete. Der Arzt intubierte die Personen, die auf der Unfallstelle verblieben, so konnten wir sie mit einem Blasbalg beatmen, was eine wesentliche Erleichterung darstellte.
Die beiden Opfer, bei denen noch eine gewisse Hoffnung auf Rettung bestand, wurden in den Helikopter verladen und der Arzt flog mit ihnen ins Spital Schiers. Dort wurde später allerdings nur noch ihr Tod festgestellt.

Wir waren wieder allein auf der Unfallstelle und mussten versuchen die verblieben Opfer, soweit es unsere Kräfte erlauben, weiter zu beatmen. Matthias hatte uns gesagt, dass bei guter Beatmung und einer minimal durch Herzmassage aufrecht erhaltenen Blutzirkulation Personen auch nach mehreren Stunden gerettet werden könnten. Also setzten wir unsere letzten Kräfte frei. Ein weiterer Heli kam über die Krete geflogen und mit ihm ein Arzt aus dem Tal. Er war ruhig, was auch uns eine gewisse Sicherheit und Ruhe zurückgab. Er trug eine beige Manchesterhose, eine schwarze Leinenwindjacke und Militärschuhe. Er fragt auch, wie es uns gehe, dann wurden die Personen, die wir bis dahin unter Aufbietung unserer ganzen Kräfte beatmet hatten, auf Bahren in den Helikopter geladen. Der Heli vom Typ Alouette 3 hatte zwei Halterungen für Bahren, einige Mitglieder unserer Gruppe flogen noch mit hinunter, einige fuhren mit den Ski ins Tal. Dann kam der Heli ein drittes Mal, wir luden den letzten Toten ein. Inzwischen hatte der Arzt das Zeichen gegeben, mit Beatmen aufzuhören, da keine Aussicht mehr bestand, ihn zum Leben zurück zu holen. Ich stieg ein und kam zu meinem ersten Heliflug. Das Wetter hatte sich in der Zwischenzeit soweit gebessert, dass der Pilot normal auf Sicht fliegen konnte und sich nicht mehr wie beim ersten Anflug mit Hilfe eines Bauern aus der Gegend von Baum zu Baum tasten musste. Auf dem Parkplatz von St. Antönien landeten wir. Eine Menge Leute stand dort und schaute uns betreten zu, wie wir den Toten ausluden und ins Hotel Weisses Kreuz hinüberbrachten. Ein dicker Mann in einer jagdgrünen Heli Hansen Jacke wollte Fragen stellen, doch wir waren zu erschöpft um zu sprechen. Der Brautvater Marc Greuter nahm uns zusammen und schirmte uns von Fragen ab. Im Hotel Weisses Kreuz wurden wir versorgt, der Heli flog mit einem Polizisten zur Unfallstelle. Im Saal neben dem Raum, wo wir verpflegt wurden, lagen die Toten auf den Tischen. Ihre Gesichter sahen völlig entspannt und friedlich aus. Ich rief meine Eltern an um sie zu informieren. Sie wussten schon, dass ein Lawinenunglück passiert war, zeigten sich aber nicht beunruhigt, weil sie unserer Vorsicht vertrauen.
Am Abend fuhren wir heim. Mit Postauto und Bahn.

Eine Betreuung für die Retter war nicht vorgesehen, wir waren mit unseren Eindrücken uns selbst überlassen. Ich träumte während Jahren von den Bildern, der in der Lawine verschütteten. Immer wieder tauchten die Erinnerungen auf und liessen mich während zwei Jahrzehnten viele Nächte lang nicht schlafen. Als ich einmal in einem Eisenbahnabteil Kotze roch, geriet ich in Panik. Der Gestank erinnerte mich an den Stress, dem wir beim Beatmen ausgesetzt gewesen sind, die Anstrengung und die schwindende Hoffnung auf Wiederbelebung.


Zeitungsberichte – Todesanzeigen -
Behauptungen und Dementi - Lawinenbericht

Die Resonanz des Lawinenunglücks in der Presse war enorm, waren doch 5 Bergsteiger aus der gleichen Stadt umgekommen, unter ihnen der erste Staatsanwalt von Konstanz und bekannte Vorstandsmitglieder der DAV Sektion. Informationen wurden gedruckt, aber auch Hintergründe wurden ausgeleuchtet. Jede Zeitung der Region Konstanz brachte ausführliche Berichte über das Unglück, über die Toten und ihre Familien. Von der FAZ bis zur Bildzeitung räumten auch alle grossen deutschen Blätter dem Unfall Platz ein. In der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien eine Meldung, die Bergsteiger seien trotz Warnung aufgestiegen. Sie hätten zu lange im Schnee gelegen und seien bewusstlos geworden. Ein Sprecher der Kantonspolizei habe die Zeitung informiert, dass es eine Lawinenwarnung eines Einheimischen gegeben habe. Der Unglückshang wird als bekannt für seine Gefährlichkeit erwähnt, da im Jahr 1947 dort schon einmal in einer Lawine sieben einheimische Bergsteiger gestorben sind. Auch das Oberbayrische Volksblatt erwähnte, dass es eine Warnung gegeben haben soll, ebenso die Bildzeitung. Das deutsche Boulevardblatt wusste sogar den Namen des angeblichen Warners und titelte in fetten Lettern: Almbauer Jenni: „Ich habe sie gewarnt“.
Die Konstanzer Zeitung zitiert dagegen nicht namentlich genannte Fachleute, dass „....sich die Konstanzer Gruppe in ziemlich sicheren Gebiet bewegt hat, dass die Lawinenverhältnisse aber noch selten so gefährlich gewesen sind wie in diesem Winter.“
Zum Unfallzeitpunkt arbeitete an der oberen Skiliftstation ein Mann namens Christian Jenny. Er wurde in manchen Zeitungsberichten (Bild, FAZ) mit der Aussage zitiert, er habe die Gruppe gewarnt. Doch da die Gruppe gar nicht an der oberen Skiliftstation vorbeigekommen war, ist dies schon aus geografischen Gründen unmöglich. Wer auf die Idee gekommen ist, ihm diese Warnung in den Mund zu legen, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ebenso wenig, welche Zeitung diese Meldung als erste verbreitet hat. Jedenfalls wurde sie dann vielfach abgeschrieben.
Der Artikel der Konstanzer Zeitung ging auch noch auf den Lawinenbericht ein. Zitat: „Der Schweizer Meteorologe und Lawinenforscher Paul Föhn nimmt an, dass unter der Pulverschneedecke die Altschneedecke abgebrochen ist. Dadurch habe das ganze Hangstück den Halt verloren. Damit habe die Gruppe aus Konstanz nicht rechnen müssen.“ Mit dieser Aussage entlastet der Lawinendienst nicht nur die Verunfallten, sondern in erster Linie sich selber. Der damaligen Praxis folgend wurde der Lawinenbericht fürs Wochenende am Freitag formuliert. In diesem Fall hatte dies dramatische Konsequenzen, da eine Warmfront den Lawinenbericht zu Makulatur entwertete. Diese radikale Veränderung der Situation wurde aber in den Aussagen von Paul Föhn nicht erwähnt, obwohl sie für jeden einigermassen erfahrenen Tourengänger im Gelände sofort sichtbar geworden ist. Föhn blieb bei seiner Aussage, die sich auf den Bericht vom Freitag bezog. Schon die Aussage, dass Pulverschnee gefallen sei, ist falsch. Es lagen zum Unfallzeitpunkt auf 2000 m.ü.M in der Ebene ca. 25 cm schwerer Neuschnee, Der Westwind hatte dann zu grossen Verfrachtungen geführt und die nach NO geneigte Mulde voll geweht. An der Abrissstelle wurde eine Schneehöhe von ca. 60 cm gemessen.
Die zeitgenössischen Presseberichte, sind voller Anklagen, erwähnen Leichtfertigkeit und übertriebene Sorglosigkeit, sie machen die Verunfallten zu Schuldigen und erwähnen das Leid der Familien.

Ein einziges Bild

Ein Bild wurde gemacht, als wir die Leute aus dem Helikopter ausluden. Es war das einzige Bild vom Unfall und wurde in fast allen Zeitungen gebracht. In einem Artikel wurde jemandem von unserer Gruppe in den Mund gelegt, wir hätten die Verschütteten mit blossen Händen ausgegraben. Dabei hatten alle ihre Schaufeln dabei, was zu dieser Zeit völlig normal war.
Die Bildzeitung machte am 1. März 83 aus dem Laientourenleiter Werner Schillinger einen Bergführer, der in einer Luftblase überlebt hatte. Schillinger hatte tatsächlich das Glück, in aufrechter Position zu sein, als die Lawine zum Stehen kam, und mit dem einen Arm konnte er sich im Schnee eine Höhle frei halten. Ausserdem wurde er dank der geringen Verschüttungstiefe als einer der ersten gefunden und konnte dadurch schnell wieder selber atmen. Im gleichen Artikel kommt noch ein Andreas Flütsch vor, der angeblich die Rettungskräfte geleitet hat. Ein Mitglied dieses Namens gab es in unserer Gruppe nicht, vielleicht arbeitete er auf der Basis der Rega, war aber nie auf dem Unfallort.
Die Konstanzer Zeitung titelte am Montag: 10 Kinder wurden zu Halbwaisen. Und der Untertitel lautete: Die fünf Lawinenopfer werden heute überführt – gemeinsame Trauerfeier. Im Text hiess es: „Das schreckliche Lawinenunglück in der Ostschweiz hat vier Kindern die Mutter und sechs Kindern die Väter genommen. Mit ihnen trauern die Ehefrauen und die übrigen Angehörigen. Niemand in Konstanz konnte gestern so richtig fassen, welches Verhängnis da über Mitmenschen hereingebrochen ist.“
Dann wurden in der Presse die einzelnen Personen beschrieben, in ihrer beruflichen und familiären Situation. Nur der jüngste von ihnen, der 26 jährige Arzt Stefan Kluge hatte keine Kinder. Dies wurde besonders erwähnt.
Am 12. März 83 erschien im St. Galler Tagblatt ein polemischer Kommentar zum
Lawinenunglück aus der Feder eines Kurt Schönenberger. Er war ein ehemaliges
Mitglied der Sektion Konstanz das nach seinem Austritt auch seinem minderjährigen Sohn verboten hat in der Sektion Mitglied zu werden. Er klagt die Sektion Konstanz, und besonders den Schriftführer Raimund Steinhoff an, mit einer unverantwortlichen
Sprache des Leistens, des Trotzens, Angreifens, Eroberns und Bezwingens des Berges in den Vereinsschriften den Boden für unvorsichtiges Bergsteigen gelegt zu haben. Er führt einige Beispiele aus Vereinspublikationen an, welche in seinen Augen die Gefahr verharmlosen und eine Art von Heldentum heraufbeschwören, die dem Schreiber das Gefühl vermittelt haben, in dieser Sektion sei ein sicheres Bergsteigen nicht möglich. Dabei zitiert er aus Vereinsschriften: „Das Wetter hat uns arg mitgespielt, aber wir haben ihm getrotzt und nahmhafte Gipfel erobert.“ Und weiter: „Um bei einer allfälligen Rückkehr fröhliche Gesichter zu sehen, hole man sich das ok der Familie ein.“ Schönenberger wirft dem Verein auch die Aussage vor, dass der Vorstand sich einig sei, dass ein Nachsinnen über Schuld zwecklos und unangebracht wäre. Raimund Steinhoff entgegnete in einem Leserbrief und bezeichnete die angeprangerte Sprache als szenenüblich und in vielen alpinen Zeitschriften zu lesen.

Trauern in Ökumene?

In den Zeitungen wurde auch überlegt, ob es eine gemeinsame Trauerfeier geben sollte – manche der Toten waren katholisch, andere evangelisch und die Ökumene war 1983 noch nicht soweit fortgeschritten, dass eine ökumenische Feier als selbstverständlich angesehen wurde. Sie fand dann doch gemeinsam unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung statt.
Im November 1983 erschien in der Gönner Zeitung der Schweizerischen Rettungsflugwacht eine Erinnerungsreportage des Helikopter Piloten Gerald Heidemann, der den ersten Helikopter zur Unfallstelle geflogen hat. Er schildert darin die Rettungsaktion als unverhältnismässig riskant, da im Nebel und Schneetreiben der Weg kaum zu finden gewesen war, und er nur mit Hilfe eines ortskundigen Bauern, der alle Hindernisse der Gegend genau kannte, geflogen werden konnte. Auch die Piloten und Ärzte, die an dieser Rettungsaktion beteiligt waren, haben ihr Letztes gegeben und unter Einsatz ihres Lebens gearbeitet.

Die Bergungskosten wurden vom Alpenverein Konstanz übernommen. Zuvor gab es noch einen Briefwechsel zwischen der Sektion Konstanz und dem DAV, wie ihre Verteilung zu handhaben sei, insbesondere, wenn bei einem allfälligen Schuldspruch Forderungen auf den Verurteilen zukommen würden. Schadenersatzforderungen könnten Werner Schillinger, gegen den Anklage erhoben worden war, wirtschaftlich in den Ruin treiben. Die Sorge war insofern unbegründet, als dass die Sektion Konstanz für alle von der Sektion ausgeschriebenen Anlässe eine Haftpflichtversicherung hatte. Eine juristische Unschärfe ergibt sich dort, wo die Gruppe der Überlebenden sich einerseits als private Gruppe mit Solidarhaftung bezeichnete, um nicht jemanden als Tourenleiter zu belasten, und anderseits allfällige Regressforderungen auf die Vereinshaftpflichtversicherung abwälzen wollte, um niemanden wirtschaftlich zu gefährden. Ausserdem wollte der Verein sich auch hinter seine Mitglieder stellen, da das Vereinswesen weitgehend davon lebt, dass Mitglieder für Kameraden Verantwortung übernehmen und Touren nach bestem Wissen und Gewissen organisieren. Ohne ehrenamtliche Tourenleiter ist keine Alpenvereinstätigkeit denkbar.

Raimund Steinhoff ging eine Woche nach dem Unglück ins Gebiet. Er sprach mit dem Bauern Christian Jenny, der die Gruppe gewarnt haben sollte. Er hat sie zwar von weitem aufsteigen sehen, doch hat er nie mit ihnen gesprochen. Raimund verlangte von der Bildzeitung eine Richtigstellung. Das Dementi nahm zwei Zeilen in Anspruch. Raimund hat neben dem Lawinenhang einen Rutschkeil in den Schnee gegraben, um den Schneedeckenaufbau zu überprüfen. Der Keil rutschte sofort spontan ab, das zeigt den besonders ungünstigen Schneedeckenaufbau an dieser Stelle auf. Auf einer Eislamelle lag Saharasand und eingeschneiter Rauhreif, auf dem der Neuschnee keinen Halt fand. So glitt die Neuschneedecke bei der ersten Störung durch die Tourengänger ab. Hätte die Sonne den Schnee durchfeuchtet, wäre die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Schichten im Schnee nach einigen Tagen fester geworden. Doch bei der gegeben Hangneigung und Exposition bescheint die Sonne im Winter den Hang nie.
Zwei Tage nach dem Unfall, an einem Dienstag ging ich mit Freunden auf eine Skitour ins Berner Oberland. Die Woche danach ist mir als kalt, aber wolkenlos in Erinnerung geblieben. Wir unternahmen von der Lämmernhütte aus täglich Skitouren und mein Interesse galt verständlicherweise dem Schneedeckenaufbau. Im Berner Oberland setzte sich der Neuschnee vom Wochenende ziemlich schnell und verfestigte sich mit der Unterlage. Nur schattige nach Nord bis Ost gerichtete Steilhänge mit viel Triebschnee blieben gefährlich. Die Tour war schon lange abgemacht und ich dachte, für die Verarbeitung könne ich nichts Besseres tun, als gleich wieder in die Berge zu gehen und die schlechten mit guten Erlebnissen überdecken.

Gauenhütte - Raimund Steinhoff - Der losgebrochene Stein

Zum Dank für unsere Rettungsbemühungen wurden wir von der DAV Sektion Konstanz, der die verunfallte Gruppe angehört hatte, in ihre Clubhütte Gauenhütte im Montafon eingeladen, wo ich Raimund Steinhoff kennen lernte. Später haben wir einige gemeinsame Touren unternommen. Pollux, Grand Combin und auch kleinere. Fürs Gipfelfoto hatte er immer einen Kamm in der Tasche und auch bei –25 Grad und heftigem Wind auf dem Grand Combin, wo verschiedene der Tourenteilnehmer schon Erfrierungen an den Händen und im Gesicht hatten, legte er seine rotblonden Haare fürs Foto in einen akkuraten Scheitel. Raimund Steinhoff hat inzwischen alle 47 4000-er der Schweizer Alpen bestiegen. Er war 34 Jahre im Vorstand des DAV Konstanz, davon 10 Jahre als 1. Vorsitzender. Er ist heute ein rüstiger 76-jähriger. Seine Frau Erika ging in früheren Jahren eher auf leichtere Touren mit, später begleitete sie ihren Mann aber auch auf schwere Touren.
Im September 1987 hat Raimund mit seinem langjährigen Tourenbegleiter Georg Bernhardt eine Tour aufs Schreckhorn gemacht. Beim Abseilen lösste sich ein Haken oder eine Seilschlinge riss, und Georg Bernhardt stürzte 300 Meter tief auf den Gletscher. Raimund stieg ungesichert bis zu seinem Freund ab, der in der Nähe des Bergschrundes tot liegen blieb.
Auch einige der Hinterbliebenen waren auf der Gauenhütte dabei, ich erinnere mich an Angelika Stadelhofer, die ihren Mann Eugen Stadelhofer in der Lawine verloren hatte. Sie war eine kleine Frau mit rötlichem Kraushaar, die mich in ihrer ernsten Art beeindruckte.

Eine Anzeige wegen fahrlässiger Tötung

Eugen Stadelhofer war an diesem Sonntag als nichtberuflicher Tourenleiter für die Gruppe verantwortlich, er hatte eine Tour aufs Chüenihorn ausgeschrieben. Schon auf der Hinfahrt nach St. Antönien zögerte er zweimal und wollte umkehren. Seine Tourenteilnehmer überzeugten ihn, die Situation wenigstens vor Ort anzusehen. Auf dem Parkplatz in St. Antönien gab er die Führung der Gruppe ab, weil er die geplante Tour aufs Chüenihorn für undurchführbar hielt. Dann ging er einfach mit der Gruppe los, als normales Mitglied einer Gruppe von Bergsteigern in Solidarhaftung. Die Gerichtspraxis nimmt normalerweise an, dass derjenige mit der grössten alpinen Ausbildung oder Erfahrung automatisch die Verantwortung einer Gruppe trägt, die in Solidarhaftung etwas unternimmt. Das sind in erster Linie Bergführer, dann aber auch ausgebildete Tourenleiter der Alpenvereine, die sich in einem Unglücksfall einer Gruppe, der sie angehört haben schwerlich aus der Verantwortung nehmen können. In diesem Fall trug Eugen Stadelhofer die Verantwortung, doch er war in der Lawine ums Leben gekommen. So wurde gegen den nächsten Überlebenden in der möglicher Verantwortungshierarchie Anzeige wegen fahrlässiger Tötung in fünf Fällen erstattet. Es traf den Schreinermeister Werner Schillinger, der in der Lawine seine Ehefrau verloren hatte. Er wurde vom zuständigen Gericht unter den Überlebenden als der am besten ausgebildete Teilnehmer angesehen.

Die Vorstandsmitglieder waren sich einig, dass ein Nachsinnen über Schuld nicht nur zwecklos, sondern auch unangebracht gewesen wäre. Der Verein kümmerte sich mehr um die Hinterbliebenen als um die juristische Aufarbeitung und bemühte sich zu bewirken, dass die polizeiliche Untersuchung eingestellt wurde.
Am 29.12.83 liess die Staatsanwaltschaft Graubünden die Anklage gegen Werner Schillinger mit einer Einstellungsverfügung fallen. Ausführlich wird in dem Dokument erläutert, weshalb er nicht für das Unglück haftbar gemacht werden konnte.
Dass das Lawinenbulletin bei weitem nicht die real bestehenden Verhältnisse beschrieben hatte, sondern fälschlicherweise von geringer Lawinengefahr gesprochen hatte, wird zu seinen Gunsten ausgelegt. Die Kosten für die eingestellte Untersuchung betrugen Fr. 2206.40. Sie wurden je zu einem Fünftel, Fr. 441.30 dem Nachlass der Verstorbenen auferlegt. Die Überlebenden wurden nicht belangt. Die Rechnung setzt sich aus interessanten Einzelbeträgen zusammen, wobei auffällt, dass mit Fr. 920.—der grösste Posten für das Gutachten des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung Weissfluhjoch Davos entfällt. Soviel wurde eingesetzt um das zum Unfallzeitpunkt völlig unzutreffende Lawinenbulletin zu erläutern. In der Rechnung der Staatsanwaltschaft gibt es einen A. Flütsch, der für seine Dienstleistungen Fr. 120.—verrechnete.

Einen oder zwei Sommer nach dem Lawinenunglück ging ich mit meiner Freundin zur Unfallstelle am Chrüz in der Hoffnung, die Bilder, die mich in Albträumen immer wieder heimsuchten, würden davon verschwinden. Doch das half nichts. Der Berg war im Sommer nicht der gleiche. Heidelbeersträucher überzogen den Hang. Im Sommer sah er lieblich und völlig harmlos aus. Die Bilder von den im Schnee Verschütteten erschienen weiterhin in meinen Träumen, das Gefühl von Stress, wie ich ihn beim Beatmen erlebt hatte, holte mich immer wieder ein. Richtig ruhig fühlte ich mich lange Zeit nur bei ganz konzentrierter Arbeit in meiner Töpferei oder wenn ich möglichst allein in den Bergen unterwegs war.
Nach 20 Jahren war die Tour aufs Chrüz bei unserer SAC Sektion als Skitour auf dem Tourenprogramm. Da ging ich mit. Ich erhoffte mir nicht viel, aber als ich den Stein sah, der zur Erinnerung an das Unglück errichtet wurde, er gleicht einer ganz kleinen Kappelle, und sah, dass im Giebelbereich bereits der Zahn der Zeit eine Steinplatte heraus gebrochen hatte, da fiel etwas von mir ab. Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Der Ort verlor mit diesem Bild des langsam verfallenden Mahnmals seinen Schrecken. Dieser eine Stein, der aus einem Giebel heraus gebrochen ist, hat mich von den Albträumen erlöst. Seither habe ich nie mehr von dem Lawinenunglück geträumt.

27 Jahre später -
Ein Gespräch mit Erika und Raimund Steinhoff im August 2009

Das Ehepaar Steinhoff wohnt in einer kleinen Eigentumswohnung in einem Aussenquartier von Konstanz. Nahe am See, in einer ruhigen Wohngegend. Die Wohnung sieht so aus, als sei gerade das Möbelhaus vorgefahren und habe die Einrichtung akkurat hingestellt. Alles ist ordentlich, an den Wänden hängen Bergfotos. Einige zeigen den Sohn Michael, der Bergführer geworden ist, den Beruf aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Sie haben noch eine Tochter, Corinna, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Konstanzer Altstadt wohnt.
Als ich anrief um ein Interview zu erbeten, waren sie sofort bereit, und so treffe ich sie wenige Tage nach meinem Anruf in Konstanz.
Wir setzen uns fürs Interview an einen Tisch mit Eckbank und einer gehäkelten Tischdecke drauf.
Erika reagiert auf meine Fragen oft schneller als Raimund und ergänzt manches, was er sagt. Inhaltlich sind sie aber in jedem Punkt kongruent.
Im Zentrum meines Interviews steht die Frage: Wie gehen die Familien mit der Nachricht vom Bergtod eines Angehörigen um? Aber unser Gespräch dreht sich auch um die vielen Unfälle, in welche die Sektion Konstanz mit ihren ca. 6000 Mitgliedern in den letzten Jahren verwickelt war. Daneben frischen wir Erinnerungen an gemeinsame Bergtouren auf und gleichen unsere Erfahrungen ab, in Bezug auf das Bergsteigen allgemein und speziell in Bezug auf dessen Gefahren.

Die Botschaft vom Tod

Raimund hatte damals die Aufgabe übernommen, die Angehörigen zu benachrichtigen. Er erzählt von dem Abend mit sichtlicher Erregung. Fritz Schaffheutle, der erster Vorsitzender, war so geschockt, dass er dazu nicht in der Lage war. „Ich bin dann zu den Leuten hingegangen. Der verunfallte Eugen Stadelhofer arbeitete als Schreinermeister im gleichen Betrieb wie ich. Er in der Werkstatt, ich im Büro, da haben wir uns sehr gut gekannt. Erika und ich fuhren von einer Familie zur Nächsten.“ Raimund erinnert sich, dass ganz verschiedene Reaktionen auf die Hiobsbotschaft kamen. „Manche hatten mit so was gerechnet, weil die Leute viel im Winter unterwegs waren. Andere waren geschockt.“
Erika erinnert sich, dass Christa Renkawitz total schockiert war. Ihr Mann Hans Peter Renkawitz hatte gerade eine lange, schwere Krankheit überstanden und verstarb kaum genesen in der Lawine. Dies erwähnte eine der Konstanzer Zeitungen in einem Nachruf.
Erika und Raimund sind also an jenem Sonntagabend ins Auto gestiegen um die Kunde von den verunfallten Bergkameraden zu deren Familien zu tragen. Eine schaurige Fahrt durch die von deutscher Gemütlichkeit geprägte Kleinstadt. Jede Familie wurde von ihnen persönlich informiert. Raimund legt im Gespräch lange Pausen ein. „Ja, wie haben die reagiert? Lore Schillinger ist ja im Schnee umgekommen. Die haben 3 Kinder, die waren fast erwachsen, so 15 bis 19. Sie waren an dem Abend alle zuhause. Erst waren die mal ganz still. Die sagten gar nichts, einfach nur geschwiegen haben die. Die konnten das erst mal gar nicht fassen dass die Mutter umgekommen ist.“ Raimund ergänzt: „Der Vater war ja auch in der Lawine und die Mutter ist umgekommen.“ Die Steinhoffs wollten an dem Tag auf den Piz Medel, und als Raimund gesehen hatte, dass es so warm geworden war, hat er die Tour abgesagt.

Dir Frage nach dem Sinn - Man braucht Distanz

Ich will von den beiden Steinhoffs wissen, ob sie sich in solchen Situationen nicht die Frage nach dem Sinn des bergsteigerischen Tuns stellen.
Raimund wiegt den Kopf, und sagt etwas nachdenklich: „Da kommen einem schon Bedenken und Vorsicht ist immer richtig. Wir sind seither viel vorsichtiger geworden.“ Er beteuert, dass er seither ohne den Lawinen- und den Wetterbericht konsultiert zu haben, auf keine Tour mehr geht. Doch die Bergsteigerei hinterfragt er in diesem Gespräch nie grundsätzlich. „Ich habe mich entschieden, nur noch auf Hochtouren auf Gletschern zu gehen, wo keine Lawinen kommen können.“ Erika: „Ja, stellen wir uns die Frage nach dem Sinn? Nein, ich glaube, wir gehen so gerne, dass wir einfach wieder gehen.“
Raimund ergänzend: „Ja, man geht wieder. Aber eine gewisse Zeit brauchte ich dann schon. Nach dem Unglück am Schreckhorn hätte ich eine Woche später eine Tour führen sollen, da war ich nicht in der Lage.“
Zwischen den Sätzen liegen oft längere Pausen, in denen die längst vergangenen Ereignisse heraufbeschworen werden, in denen aber die Gedanken auch zu anderen Bergabenteuern schweifen.
Erika nimmt den Faden wieder auf: „Ja das am Schreckhorn war für dich noch krasser.“ Denkpause. Ein anderer Freund der beiden, Heinz Kohler, der wie auch Georg Bernhardt mit dabei war auf der Tour am Grand Combin vom 1. Mai 1986, war am 27. Juli jenes Jahres am Westgrat der Kuchenspitze in relativ leichtem Klettergelände unangeseilt abgestürzt. Er hatte einen drogensüchtigen Sohn, den hatte er da rausgeholt, und der hat sich nach dem Tod des Vaters das Leben genommen.
Eine andere Frage, die mich interessierte, war wie der Tod von Bergsteigern in der Konstanzer Gesellschaft aufgenommen wurde. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden deutsche Bergsteiger oft als nationale Helden gefeiert. So wurden die Erstdurchsteiger der Eigernordwand von Hitler persönlich empfangen und geehrt. Ich wollte wissen, ob da noch so etwas wie eine Heroisierung stattfand und ob sie vielleicht eine Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung bemerkt haben.
Die Antwort von Raimund kam schnell: „Heroisierung? Glaub ich nicht, das ist doch vorbei.“ Erika ergänzte: „Heute denkt man eher an die Angehörigen.“ Damit war aber auch gesagt, dass es einmal anders gewesen ist.
Mit Werner Schillinger und Adolf Bäumle, die das Unglück am Chrüz überlebt hatten, sind Erika und Raimund in der Folge viel zusammen gewesen. Lange Spaziergänge ermöglichten es den beiden, sich auszusprechen. Erika ist sich sicher, dass die Leute, die viel und offen über ihren Verlust gesprochen haben, besser und schneller drüber hinweg gekommen sind, als Leute, die sich in der Folge verschlossen haben.
Die Hinterbliebenen des Lawinenunglücks am Chrüz bilden so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft, die sich nach einem Vierteljahrhundert langsam auflöst. Die meisten von ihnen treffen im Advent einmal zusammen, und gehen zusammen meist nach St. Gallen ins Theater.
Raimund erwähnt, dass es im vergangenen Jahr nochmals einen Gedenkgottesdienst gab, dass da aber nicht mehr alle Hinterbliebenen und Überlebenden gekommen sind. „Die Frau vom Dirk Feistkorn kam nicht, und Christa Renkawitz nicht, sie ist damals auch nicht zur Gauenhütte gekommen, sie sagte schon damals, sie wolle sich das nicht antun.“
Erika erinnert sich daran, dass Angelika Stadelhofer gleich nach der Benachrichtigung in die Schweiz fuhr. „Sie hat sich den Eugen noch vor Ort angesehen, bevor der Sarg zugemacht wurde. So ist Angelika. Die erzählt auch immer alles was sie fühlt und dann ist sie es los, das tut ihr gut und dann ist es fertig.“

Der Blick von aussen - Stört das Unverständnis?
Wir wissen ja, was wir tun

Die Frage nach der Wahrnehmung und der Beurteilung der alpinistischen Tätigkeit in der Bevölkerung und in der Presse beantwortet Raimund mit einem wegwerfenden Kopfnicken. „Viele betrachten das als Leichtsinn.“ Und Erika doppelt gleich nach: „Ja, vor allem nach dem Unfall von Georg. Warum geht der mit 60 noch aufs Schreckhorn? So hiess es an manchen Orten, auch wenn der Unfall mit dem Alter nichts zu tun hatte.“
Erika nimmt an, dass viele Leute schon denken, das sei wie eine Sucht, und dass die Berge die Menschen leichtsinnig machen. Raimund bestätigt, dass er auch schon Unverständnis begegnet ist, doch es scheint die beiden überzeugten Bergsteiger nicht zu stören. Zusammen sagen sie den Satz wie einstudiert: „Nein, ich würde sagen, die haben einfach keine Ahnung, die können das einfach nicht entscheiden. Nein, also das stört uns eigentlich nicht wirklich, wir wissen ja, was wir da tun.“
Meine Vermutung, dass sich hinter dem Alpinismus eine Todessehnsucht verbergen könnte weisen beide vehement zurück. „Todessehnsucht gar nicht! Bei uns nicht, da müsste einer schon Selbstmordabsichten haben. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, dann würden wir nicht gehen. Man bereitet sich vor und hat Spass daran.“
Der Gedanke an eine Lebensüberdrüssigkeit von Bergsteigern ist ihnen noch nie gekommen. „Man macht es für sein Leben und bereitet sich vor und hat Spass daran.“

Der Absturz am Schreckhorn - Ein alter Haken

Dann erzählt Raimund die Geschichte von vom Absturz von Georg Bernhardt am Schreckhorn.
Erika hatte damals keine Erfahrung mit Klettern in dieser Höhe. Ausserdem ist die Route über den Südpfeiler sehr ausgesetzt. Deshalb blieb sie in der Schreckhornhütte, während die Männer aufs Schreckhorn stiegen. „Also gereut hat es mich nicht wirklich, ich wusste, dass es schwer war. Die Männer haben gesagt, dass es laut Führer 7 Stunden sind bis zum Gipfel, das ist schon lang und in der Höhe und so sagte ich mir eben, dann lassen wir das. Ich habe vor der Hütte gesessen und gelesen.“
Raimund übernimmt das Wort: „Die 4000-er der Schweiz habe ich alle bestiegen, aber ausser beim Schreckhorn hatte ich nie Probleme......Das war bei der 3. Abseilstelle. Ich war schon weiter abgeklettert und hatte einen schlechten Stand. Da war ein Schneefeld, das habe ich gequert. Dann rief Georg: „Du hast ja einen Haken übersehen,“ den benützte er dann und hängte das Seil dort ein. Als er sich ins Seil lehnte, musste sich das dann gelöst haben, ich weiss nicht, ob der Haken nicht richtig gesteckt hatte oder eine Schlinge nicht gut war. Er stürzte an mir vorbei. Das Seil wirbelte weit in der Luft. Er hat noch geschrieen. Als Georg abgestürzt war, kam in mir eine gewisse Unsicherheit auf. Und zwar ein Zittern beim Klettern.“ (er zeigt, wie er vom Eindruck des Ereignisses zusammengekrümmt wurde und zitterte) „Mit Seilschlingen bin ich immer vorsichtig, wenn die nicht gut sind, können sie reissen. Wenn da vorher ein Seil abgezogen wurde, kann das die Schlinge versengen und dann hält die nicht mehr.“ Nach einer kurzen Pause fährt er in seiner Erzählung weiter: „Da war noch ein Bergführer mit zwei Gästen unterwegs, der hat dann die Rettung organisiert.“
Während Raimund seinen Gedanken nachhängt, führt Erika den Gesprächsfaden weiter: „Da dachte ich, warum bin ich plötzlich so unruhig? Und dann ging’s auch nicht lange, bis die Klienten vom Bergführer kamen und ich sie fragen konnte, warum sie alleine kommen. Die sagten, ihr Bergführer wollte das noch beobachten, was die andern da oben tun. Der Bergführer hatte gesagt, dass da oben was nicht stimmt. Dann kam auch gleich der Hubschrauber...“
Raimund: „Ja das waren zwei Hubschrauber, der erste war mit Gästen unterwegs, der flog gleich drüber hinweg, und der zweite war dann der Rettungshubschrauber.“
Erika war heilfroh, als Raimund dann aus dem Helikopter ausstieg. „Aber wie! Der konnte kaum mehr gehen... nass und ganz gebückt.“
Raimund: „Ja, ich war ganz nass, ich musste da einen Wasserfall queren und ich habe dann da oben gewartet. Ich war die ganze Strecke bis zum George abgeklettert. Die ganze Kante und dann die Rampe. Zwei Stunden habe ich gebraucht bis ich bei ihm war. Da habe ich ihn dann gefunden, wo er tot war. Der Bergführer hat beobachtet, dass nur einer von uns absteigt. Beim Raufklettern hatten wir kaum Schwierigkeiten. Normalerweise probiere ich immer ob die Haken richtig sitzen. - (Zeigt ein Bild vom Schreckhorn) Der Bergführer war auch oben, die waren aber im Abstieg schneller und er hat dann von unten gesehen, dass bei uns etwas nicht stimmte, weil nur einer abgestiegen war.“
Erika zeigt auf einem von Raimund gemalten Bild die Absturzstelle und den ganzen Weg, den Georg abgestürzt ist und die Kante, über die Raimund ungesichert abgeklettert ist.

Dynamik in der Gruppe?

Ich will wissen, wie sie die Gruppendynamik einschätzen, ob man vorsichtiger geht, wenn man allein ist und ob es so etwas wie einen Gruppendruck gibt. Die Reaktion kommt unerwartet heftig, zuerst von Erika: „Das geht schon los, wenn man losgeht, dann gehen sie schon alle schnell, sieht ja schlecht aus, wenn man als letzter geht. Und so geht das weiter. Jeder will zuforderst gehen. Wenn ich alleine gehe, frage ich mich ob ich das kann oder ob’s zu gefährlich wird.“
Raimund meint, keiner wolle kneifen, in der Gruppe fühle man sich wohler und besonders Männer melden in einer Gruppe nie Bedenken an, sondern wollen immer vorwärts gehen.
Raimund führt noch kleinere Touren, er hat Artrose in den Fingern und kann so nicht mehr klettern. „So kann ich nicht mehr zum Matterhorn hoch. Skitouren, das geht noch und wandern.“
Jede Woche treffen sie sich mit dem Alpenverein. Einmal zum Wandern und einmal zum Radfahren. Klettern strengt sie mehr als früher.

Am Abend

Nach dem Besuch bei ihren Eltern treffe ich noch die Tochter Corinna Steinhoff. Als ich sie frage, wie ihr Vater damals auf den Unfall am Schreckhorn verarbeitet hat, ruft sie laut aus: „Ja da wurde er erstmals in seinem Leben menschlich! In Ihm hat Unfall eine Veränderung ausgelösst, dass er auf die Pflege von Sachwerten weniger Energie verwendet und sich vermehrt um Menschen kümmert, sich den Enkeln widmet und gelernt hat, auch mal eine Fünf gerade sein zu lassen.“

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