Donnerstag, 24. September 2009



Selbst auf dem Stadtgebiet von Zürich gibt es Bergtote. 
Nicht nur in der berüchtigten Fallätsche oberhalb von Leimbach sondern auch auf dem normalen Üetlibergweg stürzten schon bekannte Alpinisten ab. 
Dies berichtete die NZZ a, 3.10.08

Montag, 14. September 2009

Himalayastatistik
nach Elizabeth Hawley und Jan Kielkowski


Annapurna (8.091 m)
Der gefährlichste Achttausender

Die "Göttin der Ernte"


Die Annapurna wurde zwar schon 1951 als erster Achttausender erstbestiegen. Und sie ist mit 8.091 Metern fast 800 Meter niedriger als der Welthöchste. Doch ihre Gefahren sind vielfältig. Sogar die "Normalroute" von Norden her ist durch extreme Lawinenhänge, Gletscherbrüche und Eisstürze bedroht. Annapurna bedeutet in der Sprache Einheimischer "Göttin der Ernte". Auf ihrem Gipfel standen bisher nur 106 Menschen. Insgesamt kamen bei Besteigungen, Versuchen, Auf- und Abstiegen an der Annapurna 55 Menschen ums Leben. Das heißt: Auf zwei erfolgreiche Besteigungen kommt ein Todesopfer.

Die Statistiken basieren auf Chroniken von Elizabeth Hawley (Kathmandu) und Jan Kielkowski. Hawley dokumentiert seit Jahrzehnten die Fakten für den Himalaya Nepals, ihr Kollege die Achttausender in Pakistan und Tibet. Die Datenreihen reichen von Albert Frederick Mummery auf dem Nanga Parbat (1895) bis zum heutigen Massentourismus auf dem Everest (Stichtag 31. Dezember 2000).


Berg /Höhe m/ Gipfelerfolge / Todesfälle

Mt. Everest /8850 / 1.314 / 167
Cho Oyu / 8201 /1.211 / 28
Gasherbrum II /8035/ 520 /16
Dhaulagiri / 8167 / 298/ 55
Broad Peak /8047 /233 / 18
Manaslu / 8163/ 198/ 51
K2 /8611 / 189 /49
Nanga Parbat / 8125 / 186/ 61
Shisha Pangma /8027 /180 /19
Makalu /8463/ 167 / 20
Gasherbrum I/ 8068 / 162 / 17
Kantschendzönga /8586 / 162 / 39
Lhotse/ 8516 / 151/ 9
Annapurna / 8091/ 109/ 55
Gesamt / 5080 / 604

Daraus ergibt sich, dass im Schnitt auf 100 Gipfelbesteigungen 8,41 Bergsteiger ihr Leben lassen, oder dass die Überlebenschance bei etwa 1 : 12 liegt. Will man also alle 14 Achttausender besteigen, brauch man mehr als die statistische Überlebenschance.
Das wird in der alpinen Szene nicht ausgeblendet, sonder ist den Höhenbergsteigern durchaus bewusst. Gerne umgeben sich Höhenbergsteiger mit dem Mythos des Besonderen, des Abenteurers.

"Killerberge" und Publikumsmagneten
Der Nanga Parbat folgt in der bitteren Statistik der Todesopfer an den Achttausendern – mit einem Verhältnis zwischen Toten und Gipfelerfolgen von 1:3,1 - hinter der Annapurna an zweiter Stelle. Erst an dritter Stelle steht der gefürchtete K2 mit einem Verhältnis von 1:3,4. Vierter ist der Manaslu (1:3,7) mit seinen gefährlichen Lawinen. Der von der Boulevardpresse und sogar von Fachmedien so ausgeschlachtete Mt. Everest kommt bei der Gefährlichkeit unter allen 14 Riesen erst an siebenter Stelle (1:7). Das hat unter anderem mit dem heute fast hemmungslosen Einsatz von künstlichem Sauerstoff und der Hilfe durch Hochträger, Bergführer und Sherpa-Hochträgern zu tun.

Weniger gefährliche Achttausender
Das geringste Todesrisiko hat der Cho Oyu mit einem Toten gegenüber 47 erfolgreichen Besteigungen. Er wird deshalb am stärksten vermarktet. Danach folgen der Gasherbrum 2 und der Zentralgipfel des Shisha Pangma (1:31). Der nur wenige Meter höhere Hauptgipfel des Shisha Pangma ist risikoreicher und daher viel seltener bestiegen (1:9). Dann folgen Gasherbrum 1 (= Hidden Peak) mit 1:10 und Broad Peak mit 1:12.

Lhotse ist das Mauerblümchen
Der Lhotse ist als direkter Nachbar des Mount Everest ein Spezialfall. Er zählt mit 8.516 Metern zu den "hohen" Achttausendern. Sein Gipfel ragt südöstlich des South Col weit in die Todeszone. Nach der Annapurna gibt es hier die insgesamt wenigsten Besteigungen, nämlich nur 129. Obwohl der Lhotse eine schöne, eigenartige Form aufweist und alpinistisch von mehreren Seite spannend wäre, interessieren sich fast alle, die in die Region kommen, ausschließlich für den direkt benachbarten Mount Everest als Gipfel aller Eitelkeiten. "Sie laufen am Lhotse achtlos vorbei", so beschreibt es dessen Erstbesteiger, der Schweizer ERNST REISS in einem Interview gegenüber GERALD LEHNER. Reiss und Fritz Luchsinger erreichten 1956 erstmals den Gipfel.
Hier ein Artikel von Oswald Oelz aus dem Tages Anzeiger. Oelz ist ein erfolgreicher Spitzenbergsteiger mit Besteigungen der höchsten Berge auf allen Kontinenten. Ausserdem war er Chefarzt des Zürcher Triemlipsitals und ist ein scharfzüngiger Schreiber und Vortragsredner.
Sein neuestes Buch "Mit Eispickel und Stethoskop" geht der Frage nach dem Sinn des Bergsteigens nach. Er kommt zu einem Schluss, der sich etwa so zusammenfassen lässt: "Es ist absoluter Unsinn, macht aber furchtbar Spass."
Seine Seite ist: http://www.oswald-oelz.ch/index.php

Donnerstag, 10. September 2009



Chrüz St. Antönien. 9.9.09

Mehr als 26 Jahre nach dem Unfall am Chrüz vom 27.2.1983 gehe ich mit meiner Studienkollegin Gabriele zum Chrüz, wo sich zwei schwere Lawinenunglücke ereignet haben.
Beachte das Interview mit Raimund und Erika Steinhoff in diesem Blog.



Die Tafel, die die Sektion Konstanz DAV hat anbringen lassen, erinntert auch an die Opfer des Unglücks von 1947.

An dem verhängnisvollen 27. Februar 1983 stieg ich mit einer Gruppe von St. Antönien auf.
Der Lawinenbericht fürs Wochenende war im damaligen System der Gefahreneinstufung auf Stufe 3. Mässige örtliche Schneebrettgefahr. Kammnahe Steilhänge mit Triebschneeansammlungen können zu vereinzelten Lawinenabgängen führen. Unter dieser Gefahrenstufe gab es die Stufe 1: Keine Lawinengefahr, die gibt es nur, wenn kein Schnee liegt, und geringe örtliche Lawinengefahr. Die wurde nur an ganz wenigen Tagen pro Jahr erklärt, in manchen Jahren gar nie.
Eine weitere Schwierigkeit der Gefahrenabschätzung war, dass die Bulletins des Schweizerischen Instituts für Schnee und Lawinenforschung in Davos sich nur auf Gelände unter 2500 m.ü.M. bezogen, Skitouren aber häufig über diesem Bereich durchgeführt werden. Bei der gegeben Einstufung des Institutes hätte also eine nach alpinistischen Einschätzungen geringe Gefahr herrschen sollen, eine Lawine auszulösen. Doch dann kamen zwei Faktoren ins Spiel, welche die Sachlage grundlegend veränderten:
1. liegt die Mulde am Chrüz nach NO gerichtet, bekommt im Winter nie Sonne, so dass sich die Schneedecke nicht verfestigen kann. Durch die NO Lage wird bei Westwind Triebschnee, der eine sich schlecht verbindende kugelige Struktur hat, in die Mulde eingeweht, wo sie an den Hängen im Luv, der vom Wind abgekehrten Seite des Berges, liegenbleibt. Dadurch erhöht sich die Gefährlichkeit zusätzlich.

Auf dieser Karte habe ich den Aufstiegsweg und den Bereich eingezeichnet, wo die Lawine abgegangen ist.

2. Am 27.Februar erreichte eine Warmfront die Alpennordseite, die Temperatur stieg gegen null Grad und heftiger Schneefall auf eine mit einer Eislamelle überzogenen Schneedecke verlangten nach einer grundlegenden Neubeurteilung.

Zwei von unserer Gruppe wollten sich an dem Tag auf dem Gipfel verloben. Bei der Alp Valpún treffen wir auf eine fröhliche Gruppe deutscher Skitourengänger, die wir vorher schon von weitem gesehen haben, wie sie in Einerkolonne eine Spur durch den Wald gezogen haben. Wir plaudern miteinander, machen Scherze und sprechen kurz über die Route. Dann steigen die Deutschen, die sich für den Westgrat entschieden haben im dichten Nebel und Schneefall weiter. Auch wir brechen kurz darauf auf. Der Neuschnee ist mit der Unterlage nicht verbunden, sobald ein Hang etwas über 30 Grad steil ist, rutscht er auf der eisigen Unterlage weg. Als wir auf dem Nordostgrat, wo der Neuschnee weitgehend weggefegt ist, etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, sieht unser vorderster Mann durch den aufreissenden Nebel, dass am Gipfel eine Lawine niedergegangen ist. Er geht etwas näher an den Gratabbruch und sieht jemanden mir einer roten Jacke, dessen Beine im Schnee stecken, auf einem riesigen Lawinenkegel um Hilfe rufen. Von seinen Kameraden keine Spur. Sofort versuchen wir zu ihm hinunter zu fahren, was aber in den steilen Hängen nicht geht, da diese sofort wegrutschen und drohen, auch uns zu verschütten. Wir müssen eine kleine Strecke zurück abfahren und dann wieder aufsteigen. Dabei geht wertvolle Zeit verloren. Wir schicken zwei gute Skifahrer ins Tal, um Hilfe zu organisieren. Von unserer Gruppe sind einige nicht in der Lage, sich um de Verletzten zu kümmern, sie sind zu sehr geschockt und bräuchten selber Betreuung. Als ich selber zur Unfallstelle komme, hat der erste, der sich selber befreien konnte, schon einen Kameraden soweit freigelegt, dass er atmen konnte, und bei einem weiteren hatte er angefangen den Kopf auszugraben. Bald finden wir mit den Verschüttensuchgeräten VSL weitere Verschüttete und graben sie mit den Lawinenschaufeln, die zu jeder Skitourenausrüstung gehört, aus. Nur die ersten drei haben noch eine spontane Atmung, die nächsten haben schon Herz- und Atemstillstand. Alle haben den schweren Schnee in Nase und Mund gedrückt, so war kein einziger Atemzug möglich. Einen Mann von diesen können wir ins Leben zurückholen, er fährt am Abend sogar mit dem Auto heim nach Konstanz.
Beatmen ist an toten oder tief ohnmächtigen Personen erstaunlich schwierig, da ihre Gesichtsmuskulatur ausweicht und keinen Widerstand gibt. Den Kiefer vordrücken, die Lippen aufeinander zu pressen, damit die Luft nicht durch den Mund entweicht und durch die Nase Luft in den Körper zu blasen ist viel schwieriger als im Erste Hilfe Kurs. Ausserdem kann man sich im klumpigen Lawinenschnee nicht richtig hin kieen, man bekommt in einer meist verdrehten Lage selber kaum Luft. Wenn ein Kollege dann für die Herzmassage dreimal nacheinander kräftig auf den Brustkorb des Verunfallten drückt, spritzt einem dessen Mageninhalt ins Gesicht. Nach kurzem muss ich mich gegen kräftigen Brechreiz wehren, doch ich kann die ganze Zeit über an mich halten. Wir haben vier Personen zu versorgen, bis jemand ruft, eine Person fehle noch. Ich stehe auf, und übergebe meinen Platz jemandem. Beatmen ist sehr anstrengend, man braucht Pausen. Mit dem VSL war schon gesucht worden, ohne Erfolg. Die Deutschen haben VSL des Systems Pieps, das auf einer andern Frequenz arbeitet, als das Schweizer Barryvox. Daher müssen wir mit ihren Geräten suchen. Pieps ist auch nicht so zuverlässig wie Barryvox. Da man im Lawinenschnee nicht richtige gehen kann und ständig einbricht und stürzt reisst es einem auch die Ohrhörer, die zum Pieps gehören aus den Ohren. Wenn man wieder steht, hat man die Richtung verloren, in der man gesucht hat und die Ohrhörer sind voll Schnee und geben kein klares Zeichen mehr her. Ich bin mir sicher, dass an einer Stelle noch eine Person liegt und fange rein von der Intuition gesteuert an zu graben. Bald stosse ich in der Nähe eines Person, die zwar noch grösstenteils verschüttet ist, aber selbständig atmet auch auf einen Skischuh, ich denke, der müsste zu dieser Person gehören, dann müsste sie aber das Bein sehr schmerzhaft verdreht haben. Doch bald zeigt sich, dass es die noch gesuchte Person ist.
Erst nach zwei Stunden kommt der Helikopter langsam durch den Nebel. Sofort springt ein Regaarzt aus der Maschine und kommt zu uns. Er sieht, dass es viel mehr Verletzte Personen gibt, als er erwartet hat, und fängt hektisch mit Untersuchungen an. Bei zwei Verschütteten sieht er noch Hoffnung auf Rettung, da ihre Pupillen noch auf das Licht seiner Taschenlampe reagieren. Seine Versuche zur Reanimation mit einem Defibillrator zeigen aber keine Wirkung, obwohl sich die Personen unter dem Stromstoss aufbäumen und die eine danach einen spontanen Atemzug andeutet.
Die beiden Personen, bei denen noch eine gewisse Hoffnung auf Rettung besteht, werden in den Helikopter verladen und fliegen mit dem Arzt ins Spital Schiers. Dort wurde dann später nur noch ihr Tod festgestellt. Wir sind wieder allein und müssen versuchen die verblieben Unfallopfer soweit es unsere Kräfte erlauben, weiter zu beatmen. Ein weiterer Heli kommt über die Krete geflogen und mit ihm ein Arzt aus dem Tal. Er ist ruhig, was auch uns eine gewisse Sicherheit und Ruhe zurückgibt, er fragt auch, wie es uns gehe, dann werden die Personen, die wir bis dahin unter Aufbietung unserer ganzen Kräfte beatmet haben auf Bahren in den Helikopter geladen. Der Heli vom Typ Alouette 3 hat zwei Halterungen für Bahren, einige Mitglieder unserer Gruppe fliegen noch mit hinunter, einige fahren mit den Ski ins Tal. Dann kommt der Heli ein drittes Mal, wir laden den letzten Toten ein. Inzwischen hat der Arzt das Zeichen gegeben, mit Beatmen aufzuhören, da keine Aussicht mehr bestand, sie zum Leben zurück zu holen. Ich steige mit noch zweien ein und komme zu meinem ersten Heliflug. Das Wetter hat sich in der Zwischenzeit soweit gebessert, dass der Heli normal auch Sicht fliegen kann und sich nicht mehr wie beim ersten Anflug mit Hilfe eines Bauern aus der Gegend von Baum zu Baum tasten muss. Auf dem Parkplatz von St. Antönien landen wir. Eine Menge Leute steht dort und schaut uns betreten zu, wie wir den Toten ausladen und ins Hotel Weisses Kreuz hinüberbringen. Ein Dicker Mann in einer jagdgrünen Heli Hansen Jacke will fragen stellen, doch wir sind zu erschöpft um zu sprechen. Ein Mitglied aus unserer Gruppe nimmt uns zusammen und schirmt uns von Fragen ab. Im Hotel Weisses Kreuz werden wir versorgt, der Heli fliegt mit einem Polizisten zur Unfallstelle. Im Saal neben dem Raum. Wo wir verpflegt werden, liegen die Toten auf den Tischen. Ihre Gesichter sehen völlig entspannt und friedlich aus. Ich rufe meine Eltern an um sie zu informieren. Sie wissen schon, dass ein Lawinenunglück passiert ist, sind aber nicht beunruhigt, weil sie unserer Vorsicht vertrauen.
Am Abend fahren wir heim. Mit Postauto und Bahn.


Der Gedenkstein auf dem Chlei Chrüz erinnert an der Stelle, wo die Lawine abgegangen ist, an die beiden schweren Lawinenunglücke, die sich hier ereignet haben. Elf Menschen sind dabei umgekommen.

Nie hat jemand gefragt, wie es uns geht, ob wir die Eindrücke verarbeitet hätten. Ich träumte während Jahren von Bildern, der in der Lawine verschütteten und als ich einmal in einem Eisenbahnabteil Kotze roch, geriet ich in Panik. Einen oder zwei Sommer später ging ich mit meiner damaligen Freundin zur Unfallstelle in der Hoffnung, die Bilder würden davon erschwinden. Doch das half nichts. Nach 20 Jahren war die Tour aufs Chrüz bei unserer SAC Sektion auf dem Tourenprogramm. Da ging ich mit. Ich erhoffte mir nicht viel, aber als ich den Stein sah, der zur Erinnerung an das Unglück errichtet wurde, er ist wie eine ganz kleine Kappelle, und sah, dass im Giebelbereich bereits der Zahn der Zeit genagt hat, da fiel etwas von mir ab. Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Dieser eine Stein, der aus einem Giebel herausgebrochen ist, hat mich von den Albträumen erlöst. Seither habe ich nie mehr von dem Lawinenunglück geträumt.

Mit Gabriele plaudere ich beim Wandern und erzähle ihr was mir aus der Erinnerung aufsteigt.


Für mich ist es inzwischen ein normaler Berg geworden, mit einer speziellen Geschichte und einer nach NO gerichteten Mulde, die schon elf Menschen das Leben gekostet hat.

Donnerstag, 3. September 2009


Absturz am Guferjoch

Hier am Guferjoch ist am 25. Juli 09 ein Bekannter von mir bei einer einsamen Kletterei zu Tode gestürzt. Er war ein sehr erfahrener Alpinist und muss kurz vor Ende der Tour hier beim Abstieg abgestürzt sein.


Das Gwächtenhorn mit seinem imposanten Eisbuckel.

Hier sieht man das Wendenhorn der Blick geht auf den  Südostgrat. Links davon die Fünffingerstöcke, die bei dem herrlichen Wetter am Dienstag alle Finger - mehr als fünf - von sich gestreckt haben.
Der besonnte Grateinschnitt links im Bild ist das Guferjoch von Osten.



Am 1.9.09 besuche ich den Sutenlochspitz, wo vor ca. 4 Wochen T.G. abgestürzt ist.
Ein Jäger, den ich beim Aufstieg antreffe, erwähnt den genauen Ort, das Guferjoch auf ca. 2500 m.ü.M.


Das Guferjoch ist ein Übergang auf dem Weg vom Sustenpass zur Sustlihütte. Ein weiss – blau – weiss bezeichneter Bergpfad führt durch eine wilde Landschaft, über Reste der abschmelzenden Gletscher und über festes, wie auch sehr brüchiges Gestein. Der Grat, der vom Guferjoch hinauf aus den Sustenlochspitz führt, scheint schon von Weitem nicht von gutem Fels zu sein. Er wird im Führer mit –IV 2 ½ Std. ab Einstieg angegeben, im unteren Teil grasig, im obern Teil lohnend.
Ich steige vom P. 2130 an der Sustenstrasse hinauf, über Schafweiden und dann weiter über den kompakten Granitgrat, der weder direkt zum Guferjoch führt, noch in Richtung Sustenpss abzweigt.
Im Süden protzt das Gwächtenhorn mit seinem scheinbar unvergänglich Gletscherleuchten, das Eis zieht in einem eleganten Bogen zum Sustenhorn, dessen Gipfel aber nach Norden hin seine dunkle Seite zeigt. Auf einem Felssporn sitzt wie eine Fliege auf der Nase eines Riesen die Trifthütte, zu beiden Seiten umflossen von zerschrundeten Gletschern. Todesmutig stürzt sich der Steingletscher in die Tiefe des Haslitales, dessen warmer Empfang ihm gar nicht wohl bekommt. Er verwandelt sich zuletzt in eine braune, schmutzige Masse, ein Gemisch von Eis und Geröll, die keinen klaren Übergang zwischen den Elementen mehr zulässt.
Von einem schönen Aussichtspunkt auf 2550 m.ü.M. blicke ich hinüber zum Guferjoch und überlege, was da wohl passiert sein könnte. Der kleine, von Geröll übersäte Gletscherfirn, der sich bis dicht unters Joch hinzieht, dürfte mit den eingeschlossenen Steinen genügend Halt bieten um darauf sicher den Übergang zum festeren Fels zu schaffen. Der Übergang selbst sieht steil aus, doch entdecke ich mit dem Feldstecher eine geschwungene Linie über dem Fels. Offenbar ist er mit einem Seil oder einer Kette gesichert. Ich steige mehr oder weniger entlang der weiss – blau – weissen Routenmarkierung in Richtung Guferjoch, der Weg führt über Eis und viel brüchigen Fels, wo ich hintrete rollt etwas unter meinen Füssen in die Tiefe, nichts scheint hier mehr Beständigkeit zu haben, alles ist in Bewegung. Beim Guferjoch selber legt sich der Fels etwas weiter zurück als es von weitem den Anschein gemacht hatte und wie oft auf hochalpinen Routen sieht es von Nahem weniger schwierig aus als aus der Ferne. Doch ausser den paar vom Gletscher rund geschliffenen Granitwülsten, die es entlang der Kette zu übersteigen gilt, scheint sich der Berg hier von seiner äusseren Haut befreien zu wollen. Was nicht in seiner kugeligen Urform gewahrt wird bricht auf, zersplittert und stürzt in die Tiefe, bis es auf andere Brocken trifft, die den weitern Absturz für eine kurze Weile verhindern. Der Berg scheint sich von sich selbst befreien zu wollen. Kein Stein, auf den ich trete, bleibt wo ist, jeder noch so mächtige Brocken, dem ich meinen Tritt anvertraue, fängt an zu schwingen, gerät einer ins Rutschen, reisst er gleich noch die Steine über sich mit in die Tiefe, denen er ein Weiterstürzen verhindert hatte, und die nun ohne einen fremden Halt ihre Reise zu Tale fortsetzen. Über diese lose Landschaft steige ich hoch bis ich festen Fels unter den Füssen habe. Hier muss T.G. nach einem Sturz von 20 bis 30 Metern über ziemlich glatte Granitwülste wohl aufgeschlagen haben. Mitten in diesem von Geröll und Felssplittern übersäten Eisfeld muss sein Körper zu liegen gekommen sein. Er muss stark geblutet habe. Knochen gebrochen haben. Ob er sofort tot gewesen ist kann ich nicht abschätzen, mit etwas Glück haben Bergsteiger schon höhere Stürze überlebt, doch hier wird der abstürzende Körper nicht von einem weichen Schneefeld empfangen, keine flockigen Staubwolken aus frischen Pulverschnee umfangen den zerbrechlichen menschlichen Körper, sondern eine schafkantige, erbarmungslose Härte, auf die ein Körper mit Wucht aufschlägt. Auf dem rauhen Fels wird er zerschunden, in den weichen menschlichen Körper graben sich spitze Steine ein, zerreissen ihn, zermahlen ihn schlagen mit ihm stürzend auf ihn ein und auch moderne Bekleidung oder ein Helm bietet nur weinig Schutz wenn ein Mensch Teil einer zu Tale stürzenden Masse aus Fels und Schutt wird. Ich gehe auf dem Firn umher, bis ich unter einem der Steine, die sich hier ins Eis eingeschmolzen haben, eine eineinhalb Liter Petflasche finde. Sie ist zusammengedrückt und sieht ziemlich mitgenommen aus. In der verblieben Höhlung ist eine braune Flüssigkeit, die sich beim Riechen als Eistee definieren lässt. Ist das T.G.’s Flasche gewesen? Wer lässt seine Trinkflasche liegen? Wer nimmt sie auf dem Weg zur Sustlihütte auf oder in Richtung Sustenpass auf nicht mit? Vielleicht ist sie jemandem vom Joch aus heruntergefallen, der sich nicht die Mühe machen wollte nochmals vom festen Granit aus zu den in Umwälzung befindlichen losen Brocken hinunter zu klettern. Es wäre auch denkbar, dass es die Flasche von T.G. war, dass er beim Trinken ausgerutscht ist , die Flasche schon fast zugedreht, er drauf gefallen und sie seinen Sturz noch etwas gedämpft hatte. Vielleicht hat auch nur jemand die Flasche vergessen einzupacken.



Auf dem Friedhof Göschenen fand ich diese schöne Broncetafel.
Ob Joseph Maria Gamma in den Bergen verunfallt ist, oder an etwas anderem gestorben ist geht aus der Schrift nicht hervor, allerdings deutet die Tatsache, dass er so als Bergführer, als treuer Freund und Gefährte beschrieben wird, auf einen Zusammenhang mit dem Beruf hin.

Montag, 31. August 2009

Interview Raimund und Erika Steinhoff Konstanz


Ich kenne Erika und Raimund Steinhoff seit einem Lawinenunfall am Prättigauer Chrüz vom 27. 2.83. Raimund war damals nicht in der verunfallten Gruppe dabei, war aber als 2. Vorsitzender der Sektion Konstanz des Deutschen Alpen Vereins und als Schriftenführer für die Aufarbeitung und Dokumentation des Unfalles verantwortlich.

Ich war damals in der Gruppe Schweizer Tourenfahrer, welche die Rettung und Bergung der deutschen Gruppe durchgeführt hat. Als Folge und zum Dank wurden wir von der Sektion Konstanz in ihre Clubhütte Gauenhütte im Montafon eingeladen, wo ich Raimund kennen lernte. Später haben wir einige gemeinsame Touren unternommen. Pollux, Grand Combin etc.
Der Unfall am Chrüz füllte die Medien, waren doch 5 Bergsteiger dabei umgekommen unter ihnen der erste Staatsanwalt von Konstanz. Die Meldungen erweisen sich als weitgehend unexakt, zum Teil erfunden, Zeugen wurden Aussagen in den Mund gelegt und Bauer Jenni wurde von einigen Zeitungen schlicht zum Zeugen gemacht. Er soll die Gruppe gewarnt haben, was gar nicht möglich war. Er war zum entsprechenden Zeitpunkt oben am Skilift an der Arbeit und die Konstanzer Gruppe hatte den Skilift vor der Bergstation verlassen.

Raimund Steinhoff hat alle 47 4000-er der Schweizer Alpen bestiegen. Er war 34 Jahre im Vorstand des DAV Konstanz, davon 10 Jahre als 1. Vorsitzender. Er ist heute ein rüstiger 76-jähriger. Seine Frau Erika ging in früheren Jahren eher auf leichtere Touren mit, später begleitete sie ihren Mann aber auch auf schwere Touren. So blieb sie am Schreckhorn nur aus Vernuftsgründen in der Hütte, weil eine Dreierseilschaft zu langsam gewesen wäre. Raimund ging mit seinem Freund Georg Bernhardt als Zweierseilschaft.

Im September 1987 hat Raimund Steinhoff mit seinem langjährigen Tourenbegleiter Georg Bernhardt eine Tour aufs Schreckhorn gemacht. Beim Abseilen lösste sich ein Haken oder eine Seilschlinge riss, und Georg Bernhardt stürzte 300 Meter tief auf den Gletscher. Die ganz genaue Unfallursache wurde nie geklärt, es war aber ein klarer Abseilunfall. Raimund stieg ungesichert die 300 Meter bis zu seinem Freund ab. Erika wartete in dieser Zeit in der Hütte. Ein Bergführer, der Unregelmässigkeiten bei ihrem Abstieg beobachtet hatte, alarmierte die Rettungskräfte.

Das Ehepaar Steinhoff wohnt in einer kleinen Eigentumswohnung in einem Aussenquartier von Konstanz. Nahe am See, in einer ruhigen Wohngegend. Die Wohnung sieht so aus, als sei gerade das Möbelhaus vorgefahren und habe die Einrichtung akurat hingestellt. Alles ist ordentlich, an den Wänden hängen Bergfotos. Einige zeigen den Sohn Michael, der Bergführer geworden ist, den Beruf aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Sie haben noch ein Tochter, Corinna, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Konstanzer Altstadt wohnt.
Als ich anrief um ein Interview zu erbeten waren sie sofort bereit über die Dinge zu sprechen.
Wir setzen uns an einen Tisch mit Eckbank und einer gehäkelten Tischdecke drauf.
Erika reagiert auf meine Fragen oft schneller als Raimund und ergänzt manches, was er sagt. Inhaltlich sind sie aber in jedem Punkt kongruent.
Im Zentrum meines Interviews steht die Frage: Wie gehen die Familien mit der Nachricht vom Bergtod eines Angehörigen um? Aber wir reden rund um die vielen Unfälle, in welche die Sektion Konstanz mit ihren ca. 6000 Mitgliedern verwickelt war. Daneben frischen wir auch Erinnerungen auf an gemeinsame Bergtouren und gleichen unsere Erfahrungen ab in Bezug auf das Bergsteigen allgemein und speziell in Bezug auf dessen Gefahren.

Wie wurden die Familien vom Tod ihrer Angehörigen benachrichtigt?
R: Ich übernahm die Aufgabe, die Angehörigen zu benachrichtigen, als ich den Anruf vom 1. Vorsitzenden bekam. Fritz Schaffheutle, 1. Vorsitzender war so geschockt, dass er dazu nicht in der Lage war. Ich bin dann zu den Leuten hingegangen. Der verunfallte Eugen Stadelhofer arbeitete als Schreinermeister im gleichen Betrieb wie ich. Er im Der Werkstatt, ich im Büro, da haben wir uns sehr gut gekannt. Erika und ich fuhren von einer Familie zur Nächsten.
Raimund legt im Gespräch lange Pausen ein.
R: Ich hatte 1 Woche nach dem Unfall am Chrütz am Ort einen Rutschkeil gegraben und mit dem angeblichen Informanten Jenni gesprochen.

Der Bauer Jenni hat seine Aussage ja dementiert.
R: Ja, der war oben am Skilift und die Gruppe hatte den Lift vor der Bergstation verlassen.
E: Ja aber wie gehen die Leute mit der Nachricht um?
R: Schwer, das ist ja auch ganz verschieden. Beim Unfall Kohler hat sich ein ehemaliger drogensüchtiger Sohn in der Folge des Unfalls das Leben genommen. Der hat das nicht verkraftet. Der Kohler hat den Sohn da rausgeholt und dann war das einfach zuviel.

Wie reagierten die Leute, die am Chrüz jemanden verloren hatten?
R: Manche hatten mit so was gerechnet, weil die Leute viel im Winter unterwegs waren. Andere waren schockiert.
E: Die Christa.
R: Ja die Christa war aus der Fassung.
E. Einige von uns waren in einem Sommer davor dort und sagte: Da muss der Schnee ganz gut sein, dass man da hindurch kann. Das ist so steil und sie war aber von Westen her hochgekommen. Dann sieht man in diese dunkle Mulde, und die ist ja schon sehr steil.

R: Es war (an jenem 27.2.83) ja auch das Chüenihorn vorgesehen. Die wollten gar nicht aufs Chrüz. Aber bei dem Nebel wollte der Tourenleiter nicht die Verantwortung übernehmen, die Route durch die Lawinenverbauungen zu finden. Dabei wäre das im Nachhinein wohl sicherer gewesen. Ich wollte an dem Tag mit Erika auf den Piz Medel, und als ich gesehen habe, dass es so warm geworden war, habe ich die Tour abgesagt. Ich habe das früher schon erlebt, dass ich bei solcher Wärme durch einen Hang gegangen bin, und gleich danach kam der ganz Hang in die Tiefe gerutscht. Etwas später wären alle drunter gewesen. So habe ich an diesem Tag die Tour abgesagt.

E: Ja, wie haben die reagiert? Lore ist ja im Schnee umgekommen. Die haben 3 Kinder, die waren fast erwachsen, so 15 – 19. Die waren zuhause. Erst waren die mal ganz still. Die konnten das erst mal gar nicht fassen dass die Mutter umgekommen ist.
R: Der Vater war ja auch in der Lawine und die Mutter ist umgekommen.

Stellt man sich in der Situation nicht die Sinnfrage?
R: Da kommen schon Bedenken und Vorsicht ist immer richtig. Wir sind seither viel vorsichtiger geworden. Also ohne den Lawinenbericht und Wetterbericht zu hören gehe ich auf keine Tour mehr. Und dann habe ich mich entschieden, nur noch auf Hochtouren auf Gletschern zu gehen, wo keine Lawinen kommen können. Aber weißt du noch, als am Grand Combin die Düsenjäger drüber gekracht sind, und das hat getönt wie ein Eisschlag, da bin ich schon erschrocken. (Raimund und ich haben gemeinsam 1986 die berüchtigte Corridor – Route am Grand Combin gemacht, und genau als wir unter Eistürmen, die einzustürzen drohten, durchgingen wurden wir vom Lärm der Kampfjets erschreckt)
E: Ja, stellen wir uns die Frage nach dem Sinn? Nein, ich glaube, wir gehen so gerne, dass wir einfach wieder gehen.
R: Ja, dass man wieder geht. Aber eine gewisse Zeit brauchte ich dann schon. Nach dem Unglück am Schreckhorn hätte ich eine Woche später eine Tour führen sollen, da war ich nicht in der Lage.
E: Ja das war für dich noch krasser. Denkpause. Helga Fleischhauer hat, als ihr Mann mit den Ski abgestürzt ist sogar in der Todesanzeige geschrieben, dass sie wieder gehen will, hat es dann aber doch nicht gemacht.
R: Das war so eine Trotzreaktion. Kann sein, dass man einen Moment denkt, man geht nicht mehr, doch man geht meist doch wieder. Die echten Probleme kommen dann ja erst.
E: Beim Kohler war ja sein Sohn, der immer Probleme machte, und der drogensüchtig war, den hatte er da rausgeholt, und der hat sich nach dem Tod des Vaters das Leben genommen. Das war für die Mutter natürlich noch schlimmer.

Gibt es noch so eine Heroisierung, wie in der Frühzeit des Alpinismus?
R: Glaub ich nicht, das ist doch vorbei.
E: Heute denkt man eher an die Angehörigen.
R: Schillinger und auch Bäumle, der in der Lawine war, mit denen sind wir viel zusammen gewesen, viel zusammen gelaufen, das brauchten die um sich auszusprechen zu können.
E: Ja die, die viel darüber gesprochen haben sind auch besser darüber hinweggekommen.

Wie hat sich euer Verhältnis zu den Hinterbliebendurch die Unfälle verändert?
R: Am Chrütz war es ja eine gemeinsame Skitour, die haben das gemeinsam entschieden. Auf dem Parkplatz entschieden sie sich, nicht das Chüenihorn zu besteigen, nachdem der Tourenleiter schon vorher gezögert hatte. Er traute sich nicht, den Weg durch die Lawinenverbauungen im Nebel auf das Chüenihorn zu finden. Dann haben sie gemeinsam entschieden aufs Chrütz zu gehen. Aber es war eine gemeinsame Tour. Keiner war für die Tour wirklich verantwortlich.
E: Obwohl das Chüenishorn wohl ungefährlicher gewesen wäre.
R: Ja im Nachhinein. Erika und ich waren eine Woche nach dem Unfall am Chrütz wir haben da noch Sachen von den Verunfallten gefunden und einen Rutschkeil gegraben.
Denkpause
R: Der Keil ging sofort ab, da war nach einer langen Schönwetterperiode eine harte Schicht im Schnee und Saharasand drauf. Darauf ist das dann abgegangen.
Denkpause
Die Hinterblieben treffen so im Advent zusammen, gehen zusammen ins Theater oder so, nach St. Gallen.
Denkpause
Wir hatten dieses Jahr nochmals einen Gedenkgottesdienst, da sind aber nicht mehr alle Hinterbliebenen und Überlebenden gekommen. Die Frau vom Dirk Feistkorn kam nicht und Christa ist damals auch nicht zum Gauenhütte gekommen, sie sagte schon damals: „Das tu ich mir nicht an.“ Ja die hatten ja auch eine schwere Zeit zusammen.
R: Ja aber das ging in dem Moment ja aber besser.
E: Angelika Stadelhofer ging ja hin, in die Schweiz, hat sich den Eugen (der am Chrüz umgekommen ist) noch vor Ort angesehen bevor der Sarg zugemacht wird, ist in die Schweiz gefahren, Angelika. Die erzählt auch immer alles was sie fühlt und dann ist sie es los, dann ist es fertig.

Gibt es eine Art Psychogramm, von Frauen, die Männer heiraten die gefährliche Dinge machen?
R: Nein, das glaube ich nicht, die meisten fingen erst an gefährliche Dinge zu machen, nach der Eheschliessung.
E: Fritz Schaffheutle hatte seiner Frau zur Bedingung gemacht, dass er weiterhin in die Berge gehen kann. Herta, seine Frau ist eine ganz liebe, ruhige Frau, die einfach mitgewandert ist.
R: Du hast mich auch nicht geheiratet, in der Erwartung, dass ich vom Matterhorn abstürze.
E: Nein, aber wenn ich allein zuhause war, war das schon oft schwierig, zu warten, wenn’s mal später wurde. Man würde dann am liebsten anrufen, und man kann nicht.
R: Ja das ist heute einfacher, mit dem Handy kann man auch anrufen.

Wie war die Presseberichterstattung?
R: Südkurrier war’s ja ziemlich sachlich, aber in der Bildzeitung war das ganz reisserisch aufgemacht, mit dem Bauer Jenni, der die Gruppe angeblich gewarnt haben soll. Ich habe eine Woche später mit dem Bauern Jenni gesprochen, der hat zwar die Gruppe von weitem aufsteigen sehen, doch hat er nie mit ihnen gesprochen. Ich habe dann verlangt, dass sie diese Aussage zurücknehmen und das haben sie dann auch gemacht. So zwei Zeilen unten links, die natürlich kein Mensch liesst. Bildzeitung halt, nicht besser als der Blick.
Dann haben wir hier das Eidgenössische Schnee und Lawinen Forschungsinstitut. Ich habe da halt alles so gesammelt, was kam.

Da! –Wir sehen ein Bild, wo ich drauf bin.
Ich: Das war. Als wir die Leute aus dem Helikopter ausgeladen haben. Da wird mir ein Interview mit völlig falschen Aussagen in den Mund gelegt!
E: Da ist fast bei allen Texten etwas falsch.

Raimund übergibt mir einen ganzen Ordner mit Zeitungsausschnitten und Protokollen der Polizei zu verschiedenen Bergunfällen, welche die Sektion Konstanz betreffen.

R: Todesanzeigen brauchst Du wahrscheinlich nicht.
Ich: Doch, weil ich die Bilder suche, ich suche danach, wie man den Tod behandelt, was für Bilder und Gedenksarten gibt.
R: Von Kohlers Absturzstelle gibt es noch ein Dia.

Gibt es einen Gerichtsentscheid vom Unfall am Chrüz?
Ja es gibt den Gerichtsentscheid, dass der dann da freigesprochen wurde.
(Da die Gruppe beschlossen hatte gemeinsam eine andere Tour als die geplante zu machen und der vorherige Tourenleiter die Tour aufs Chrüz nicht kannte und auch keine Karte vorhanden war ging das Gericht nicht mehr von einer Sektionstour aus sondern von einer gemeinsam in geteilter Verantwortung unternommenen Tour. Ausserdem war der ursprüngliche Tourenleiter Eugen Stadelhofer ums Leben gekommen.)

Wie war die versicherungsmässige Situation?
Ja das wurde vom Alpenverein übernommen. Jetzt wurde die Summe heraufgesetzt und der Verein übernimmt damit Bergrettung und Suchkosten, damit sind die meisten Fälle gedeckt.

Wie nimmt die Szene ausserhalb den Alpinismus wahr,
R: Viele Betrachten das als Leichtsinn.
E: Ja, vor allem nach dem Unfall. Warum geht der mit 60 noch aufs Schreckhorn?
R: Ich war noch jünger, aber Georg war 60.
E: Ja, viele sagen schon, das muss sein wie eine Sucht, das macht leichtsinnig.
R: Ja da gibt es schon Unverständnis.

Stört euch das?

R+E: Nein, ich würde sagen, die haben einfach keine Ahnung, die können das einfach nicht entscheiden. Nein, also das stört uns eigentlich nicht wirklich, wir wissen ja, was wir da tun.
R: Ich wollte mal die Überschreitung des Lysskamms machen, ich wollte das unangeseilt machen, weil man da einen der abstürzt nicht halten kann. Da kamen dann statt der sieben, die auf der Monterosahütte waren nur drei mit. Einer entschied sich erst am Morgen, die Tour zu wagen, er hatte einfach ein gutes Gefühl, das er am Abend nicht nicht abrufen konnte. Wenn da einer stürzt, reisst die andern einfach mit. Wir haben dann die schwierigsten Stellen seilfrei gemacht, und ich habe dann immer wieder geschaut, wie die gehen. Also da war’s dann wirklich steil und sehr schmal. Und als ich schaute: ganz toll! Die gingen also ganz toll, so konzentriert. (Die Überschreitung des Lysskamms ist wesentlich schwieriger als der Südpfeiler des Schreckhorns.)
Ich: Ja, wenn einem nicht ein Steigeisenbindung reisst, wie dir am Grand Combin.
R: Ja. (lacht)

Ich : Am Grand Combin haben wir das ja auch so abgemacht. Die stark eisschlaggefährdete Corridorroute nur unangeseilt, Tempo und durch.
R: Ja, das war sicherer, jeder so schnell wie möglich. Diskussion, das Risiko abschätzen. Gefühl braucht es auch, damit man das Risiko abschätzen kann.
Ich: Der Schweizer Lawinenexperte Werner Muter sagt auch immer: Hört auf euer Gefühl, das hilf mehr als ihr glaubt.
R: Oft spürt man, ob es gut ist, die Intuition hilft oft.
E: Mit einem guten Gefühl kann man’s ja auch besser, man wird lockerer.

Ich: Beim alleine Klettern habe ich gemerkt, wie viel Aufmerksamkeit die Seilhandhabung braucht, die man eigentlich fürs Klettern brauchen würde.
R: Ja.
Ich: Das Seil verursacht bei nicht sehr guter und sachgemässer Handhabung häufig Steinschlag, der auch sehr gefährlich werden kann.
R: Ja-. Beim Nachziehen, Ja, im brüchigen Gestein ist es gefährlich.
E: Oft spürt man vorher, was kommen wird, oder dass etwas los ist. Ich hab’s am Schreckhorn ja auch gespürt.


Ich Wie weit ist Alpinismus Lebenssehnsucht und wie weit es Todessehnsucht?
E.: Todessehnsucht Gar nicht!
R: Bei uns gar nicht, da müsste einer schon Selbstmordabsichten gehabt haben. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
E: Nein, dann würden wir nicht gehen. Man bereitet sich vor und hat Spass daran.

Kommt es vor, dass euch Todessehnsucht unterstellt wird?
R+E: Nein, man macht es für sein Leben und bereitet sich vor und hat Spass daran.

R: Die 4000-er der Schweiz habe ich alle bestiegen, aber ausser beim Schreckhorn hatte ich nie Probleme. Beim Absturz von Georg am Schreckhorn kam in mir eine gewisse Unsicherheit auf. Und zwar ein Zittern beim Klettern. (er zeigt, wie er vom Eindruck des Ereignisses zusammengekrümmt wurde und zitterte) Das war bei der 3. Abseilstelle. Ich war schon weiter abgeklettert und hatte einen schlechten Stand. Da war ein Schneefeld, das habe ich gequert. Dann rief er: „Du hast ja einen Hacken übersehen,“ den benützte er dann und hängte das Seil dort ein. Als er ins Seil hing musste sich das dann gelöst haben, ich weiss nicht, ob der Hacken nicht richtig gesteckt hatte oder eine Schlinge nicht gut war. Er stürzte an mir vorbei. Das Seil wirbelte weit in der Luft. Er hat noch geschrieen. Mit Seilschlingen bin ich immer vorsichtig, wenn die nicht gut ist kann das brechen. Wenn da vorher ein Seil abgezogen wurde wird, das versengt die Schlinge und das hält dann nicht mehr. Den Haken hat man nicht gefunden. Ich war da schon eine Seillänge tiefer.
E: Also genau weiss man das nicht, aber es war ein klarer Abseilunfall.

Ist die Polizei hochgegangen?
Die waren da oben, die haben ihn dann geborgen und ich bin dann dort geblieben, bis sie mich auch geholt haben. Sie habe gesagt, der Gletscher sei arg zerschrundet und ich solle auf alle Fälle bleiben, und nicht unangeseilt zur Hütte zurückgehen. Die sind noch mal hochgeflogen, nur ganz kurz um sich das anzusehen, der Bergführer hing da am Seil, dann war ihm schnell klar, was passiert ist, ein reiner Abseilunfall.

Gab’s eine Untersuchung?
R: Nee, die haben da meine Schilderung gehört. Und als der Bergführer festgestellt hatte dass das zu stimmen scheint, gab’s dann keine Untersuchung.
E. Ja wir mussten unten dann schon noch etwas zu Protokoll geben.
Denkpause
R: Das war sein letzter 4000 er- Ja der hatte alle.
E: Der Georg?
R: Ja, Schreckhorn hatte er schon einmal versucht, das hatte nicht geklappt. Ich wollte eigentlich aufs Täschhorn. Dazu hätten wir einen weiteren Urlaubstag gebraucht. So sind wir eben aufs Schreckhorn gegangen. Zu dritt hätte die Zeit nicht ausgereicht. Erika war auf der Hütte. Erika hätte auch mitkommen können, aber die Tour ist schwierig, da musste man alles sichern, zu dritt hätte man doppelt sichern müssen, dazu reicht die Zeit nicht.
E: Also das war ein Dreier in der Höhe und ausgesetzt, das hatte ich bisher noch nicht gemacht. Also gereut hat es mich nicht wirklich, ich wusste, dass es schwer war.
Die Männer haben gesagt, dass es laut Führer 7 Stunden sind bis zum Gipfel, das ist schon lang und in der Höhe und so sagte ich mir eben, dann lassen wir das.
Ich habe vor der Hütte gesessen und habe gelesen, doch plötzlich konnte ich nicht mehr lesen. Ich wurde so nervös.
R: Da war ja noch ein Bergführer unterwegs mit zwei Kunden.
E: Da dachte ich, warum bin ich plötzlich so unruhig und dann ging’s auch nicht lange, bis die Klienten vom Bergführer kamen und ich fragte sie, warum sie alleine kommen. Die sagten, ihr Bergführer wollte das noch beobachten, was die andern da oben tun. Der Bergführer hatte gesagt, dass da oben was nicht stimmt. Der hatte gesehen, dass da etwas nicht stimmt. Dann kam auch gleich der Hubschrauber...
R: Ja das waren zwei Hubschrauber, der erste war mit Gästen unterwegs, der flog gleich drüber hinweg, und der zweite war dann der Rettungshubschrauber.
E: ...da war ich heilfroh, als dann Raimund ausstieg, aber wie! Der konnte kaum mehr gehen... nass und ganz gebückt.
R: Ja, ich war ganz nass, ich musste da einen Wasserfall queren und ich habe dann da oben gewartet. Ich war die ganze Strecke bis zum George abgeklettert. Die ganze Kante und dann die Rampe. Zwei Stunden habe ich dafür gebraucht. Bis ich bei ihm war. Da habe ich ihn dann gefunden, wo er tot war.
E: Der Bergführer hat beobachtet, dass nur einer von den beiden absteigt.
R: Beim Raufklettern hatten wir kaum Schwierigkeiten. Normalerweise probiere ich immer ob die Haken richtig sitzen. - (Zeigt ein Bild vom Schreckhorn) Der Bergführer war auch oben, die waren aber schneller im Abstieg und er hat dann von unten gesehen, dass bei uns etwas nicht stimmte, weil nur einer abgestiegen war.
E: Da sieht man die Absturzstelle und den ganzen Weg, den Georg abgestürzt ist und die Kante über die Raimund ungesichert abgeklettert ist.

E: Die haben versucht, mit ihrem Führer zu sprechen, aber der hat sie nicht gehört. Ich konnte auch den Grat sehen, aber ich habe nichts gehört.
R: Aber er hat sie gesehen.

Ich weiss nicht wie nahe das zusammen ist, von der Schreckhornhütte zum Grat.
R: So tausend Meter.
E: Nein das reicht nicht. Ja man geht von der ist die Schreckhornhütte.
R: Früher war es die Strahlegghütte, aber die gibt’s nur noch als Ruine. Ich bin da mit Erika später nochmals hochgegangen, weil man da von der Ruine der Strahlegghütte aus das Schreckhorn so schön einsieht.

Ich fotografiere ihn, wie er auf dem Bild zeigt, wo’s passiert ist, er erzählt mit ruhiger Stimme und zeigt, wo er abgestiegen ist.

R: Ich habe mal eine Tour geführt zum Dürrenhorn, da habe ich gemerkt, dass der Schnee zu weich wurde, da habe ich im Abstieg nur drei Seile zusammengebunden und oben zur Fixierung einen Pickel vergraben. Ich habe dann den Leuten gesagt, sie sollen nicht mehr einseilen, sondern nur schnell am fixen Seil absteigen. Und wirklich, als Erika als letzte runterkam ging dann die Lawine ab und hat sie mitgerissen, weit über den Bergschrund hinaus und sie hatte nur ne kleine Schramme ab. Das war aber sicherer als wenn alle am gleichen Seil eingebunden gewesen wären. Weil dann hätte es alle mitgerissen.
E: Ja, ein Glas von der Gletscherbrille war weg, der Helm war aber noch auf. (lacht)
R: Ja ich ging dann wieder hoch zum den Pickel holen und dann sind wir nur noch schnell abgestiegen.

R: Ja man weiss es vorher oft nicht richtig, dass es im Sommer Lawinen geben kann.
Ich erwähne ein Unfallserie am Montblanc und das Jungfrauunglück mit den sechs Soldaten vom Sommer 2007 und den Unfall vom Frühsommer 2009 am Palü. Bei diesen Unfällen sind im Sommer Schneebretter losgegangen.

E: Ja man wird da schon viel vorsichtiger,
R: Ja die Schweizer Armeebergführer, die haben das an der Jungfrau einfach durchgezogen.

Wie ist denn das mit der Gruppendynamik? Verhält man sich auch in den Bergen anders, wenn man in einer Gruppe ist. Dass man sich hochpuscht.
E: Das geht schon los, wenn man losgeht, dann gehen sie schon alle schnell, sieht ja schlecht aus, wenn man als letzter geht. Und so geht das weiter. Jeder will zuforderst gehen. Wenn ich alleine gehe, frage ich mich ob ich das kann oder ob’s zu gefährlich wird.
R: Keiner will kneifen.
E: Und so geht das weiter, da in der Gruppe fühlt man sich sicherer. Wenn ich allein gehe, dann bin ich schon vorsichtiger, aber in der Gruppe sagt auch keiner je etwas, Frauen sagen schon eher mal dass ihnen was nicht gefällt, aber Männer sagen da nie etwas, die wollen einfach hochgehen.
R: In der Gruppe fühlt man sich schon sicherer.
E: Man denkt in der Gruppe nicht mehr dran.
R: Grad durch solche Erlebnisse wird man noch vorsichtiger.

Ich erzähle von meiner Lawinenverschüttung, da wirkt Raimund viel betroffener als bei der Erzählung seiner eigenen Geschichte.

Raimund führt noch kleinere Touren, er hat Artrose in den Fingern und kann so nicht mehr klettern.
R: So kann ich nicht mehr zum Matterhorn hoch. Skitouren, das geht noch und wandern.
E: Jede Woche treffen wir uns mit dem Alpenverein. Einmal zum Wandern und einmal zum Radfahren. Dann war ich mit den Senioren zum Mattstock. Klettern strengt uns mehr als früher.

Raimund will nochmals wissen, wie wir die Gruppe am Chrüz gefunden haben. Ich erzähle, wie es aus unserer Sicht war.
Ich: Die Zahl der zu versorgenden war viel zu gross für uns. Zwei von uns sind ins Tal gefahren um Rettung zu organisieren. Etwa drei Leute waren nicht mehr einsatzfähig, als sie gesehen haben, was passiert ist, und 6 von uns waren wirklich in der Lage die Verunfallten zu suchen, auszugraben, zu beatmen und Herzmassage zu machen. Das war zu viel bei 9 Verschütteten. Die, welche wir zuerst gefunden hatten, bzw, die sich selbst ausgegraben hatten, und die überlebt hatten, waren nicht in der Lage zu helfen. Wir liessen sie auch soweit im Schnee stecken, dass sie atmen konnten um sich selber langsam auszugraben, damit wir uns den ganz Verschütteten widmen konnten. So blieben 6 Helfer für 5 Schwerstverletzte mit Herzstillstand und Ausfall der Atemfunktion.

Die Zeit, die ich brauchte um die Geschichte zu überwinden vergleicht Erika mit den Geschichten der Kriegstraumatisierten. Darüber sprechen wir, dass es lange Zeit braucht um diese Erlebnisse zu verarbeiten.

Ich erzähle die Geschichte von Thierry Jaccard, Raimund bestätigt, das spätberufene Bergsteiger forscher gehen als solche, die jung anfangen.

R: Mir hatte die Sektion zum Abschied aus dem Vorstand einen Alpenrundflug geschenkt, da habe ich viele Fotos gemacht. Das waren noch die Diafilme, Erika hat immer nachgeladen. 6 Stunden sind wir über alle 4000-er geflogen, die ich bestiegen habe.

Am Abend:

Nach dem Besuch bei ihren Eltern traf ich noch Corinna Steinhoff. Als ich sie fragte, wie ihr Vater damals auf den Unfall am Schreckhorn reagierte, sagte sie, indem sie laut ausrief: "Ja da wurde er erstmals in seinem Leben menschlich!" In Ihm soll der Unfall eine Veränderung ausgelösst haben, dass er auf die Pflege von Sachwerten weniger Energie verwendet und sich vermehrt um Menschen kümmert, sich den Enkeln widmet uns gelernt hat, auch mal eine Fünf gerade sein zu lassen.
27.8.09 Max Bietenholz


Vom Klausenpass steige ich Richtung Clariden auf, allerdings nur mit dem Ziel bis zum Gletscheranfang, dem legendären Iswandli zu gehen.

Der Weg führt zuerst über Grashänge und kuhfladengesättigte Rinderweiden. Bald lasse ich aber die bewirtschaftete Zone hinter mir und fange an, mit meinen Bergschuhen brüchigen Schiefer zu Lehm zu zertreten. Der Berg nimmt meine Spuren an und ich schwitze unter dem Diktat der Steilheit und der sengenden Sonne.
Ich folge Wegspuren, die hinauf zum Gipfel zu führen scheinen, ich wähle zwischen solchen, die eher nach Gemsspuren aussehen und solchen, die eher nach der Hinterlassenschaft eines Gewitters aussehen. Alles was bergauf führt ist mir recht. Der lehmige Anteil des zerkrümelten Schiefers klebt an meinen Schuhen, bis er getrocknet abfällt oder bis er von einem durchwateten Bächlein abgewaschen wird.
Auf den Schiefer folgt ein heller, schafkantiger Schrattenkalk, der nur in grossen Brocken bricht und sich lieber vom Wasser die weicheren Teile ausspülen lässt, als in Bruchstücke zerfallen zu Tale zu kollern. Dicht unter diesem Riff aus hellem Kalk, das eine Hinterlassenschaft der Kreidezeit ist, steht eine Tafel aus grünlichem Gneis mit einer Inschrift: Hier starb Max Bietenholz Kromer am 25. August 1960. Fast genau 49 Jahre bevor ich seinen Stein entdecke ist er an dieser Stelle gestorben. Kein Wort weshalb der Mann hier starb, keine Altersangabe erläutert den Tod, der hier Max Bietenholz eingeholt hatte. Lawinen gibt es hier im August keine, Steinschlag wäre denkbar. Dass ein Stein weiter oben ins Rollen gekommen wäre und seinen Weg über das kompakte Kalkriff hinunter in vielleicht grossen Sprüngen kullernd und von weitem lustig anzusehen kleine Steine mit sich in die Tiefe reissend vielleicht den halben Hang in Bewegung setzend zu Tale gedonnert wäre. Ein schwefelstinkender Umzug aus Kalkbrocken, Schieferplatten mitrutschend und in der Luft Kapriolen schlagend, ein Ungetüm von Bergsturz vielleicht, das genau darauf aus war, den Max Bietenholz, der hier einen Spaziergang vom Pass aus machte, vielleicht mit Hund und Frau, die ledig Kromer geheissen hatte, oder mit Enkelkindern oder Schwiegertochter, ja wer weiss denn die Umstände, unter denen Max Bietenholz hier vom Tod ereilt worden ist. Am 25. August 1960. Jedenfalls war es seiner Familie wert, den Ort zu bezeichnen, dass ihr Max Bietenholz nicht an irgendeinem Ort auf der Welt gestorben ist sondern auf dem Weg zwischen Klausenpass 1948 m.ü.M. und der Planurahütte auf 2947 m.ü.M. oder dem Clariden Gipfel auf 3191 m.ü.M. Die Art, wie der Mann den Tod fand war der Familie nicht wichtig zu vermerken. So sachlich wie die Grafik der Schrift, in bester Manier der 60 Jahre des vergangenen Jahrhunderts, so sachlich wird die Tatsache des Todes an dem Ort vermerkt, wo dieser den Max Bietenholz ereilt hat. Ist er im Aufstieg vom Tod ereilt worden oder auf dem Abstieg? Hatte er eine glückliche Woche in den Bergen verbracht oder ist er zu einer solchen aufgebrochen mit dem Ziel, die finstere Westwand des Tödi zu durchsteigen? Oder ist er einfach nur vom Pass aus spaziert? Ist er wirklich von einem Stein erschlagen worden oder war es ein Unglück für das der Berg nicht verantwortlich gemacht werden kann? Hat ihn ein schneller Herztod niedergestreckt? Herzschlag statt Steinschlag? Oder war es eines der lärmenden Gewitter, die sich an schwülen Sommerabenden vom Schächental hinüber zum Urnerboden und nachts zurück kämpfen und die Berghänge mit ihrem brüllenden Donner erzittern lassen? Ein Blitz, dem es nicht genug war, in einen Felsen zu schlagen, sondern ein Blitz, der ein Denkmal wollte, und zu diesem Zweck den Max Bietenholz erschlug? Ihn vielleicht verbrannte, bis vom Max Bietenholz nur ein rauchender Haufen Asche blieb? Ich finde keine Lösung, Stein-, Herz- oder Blitzschlag sind möglich.
Nachdem ich neben dem Stein stehend einen Schluck aus meiner Flasche genommen habe, steige ich weiter über Felsstufen und Schuttfelder höher und höher. Die wackersten Urner sind die Steinmänner, die mir hier oben den Weg weisen und die auch im Winter tief eingeschneit, in einem eisigen Kleid Wache halten. Ich begrüsse jeden einzelnen der steinernen Gesellen und merke mir seinen Ort und sein Aussehen, um entlang ihrer losen Reihe den Abstieg auch zu finden, wenn Nebel den Berghang verhüllt. Mir scheint, ein lockerer Geselle wandere mit mir den Berg hinauf, ich kann ihn nicht sehen, doch scheint mir, da sei jemand. Ich spreche ihn an, doch gibt er keine Antwort. Ich nenne ihn Max Bietenholz, es schient ihm zu passen, und ich lasse ihn mit mir steigen. Wenn ich zu ihm spreche bleibt er stumm, doch bekomme ich den Eindruck, dass er durchaus zuhört. Ich erzähle ihm alles was ich vom Berg weiss, und er lässt mich erzählen, obwohl er die meisten Geschichten vom Berg wohl besser kennt als ich. Der gangbare Grat hinauf ins Chamlijoch wird immer schmaler und furchteinflössender. Gähnende Trichter öffnen sich zu beiden Seiten des Grates und scheinen den Bergsteiger in die Tiefe ziehen zu wollen. Hier stürzen jeden Winter Skifahrer, die nicht sorgfältig, wie auf Messers Schneide den Berg immer auf dem höchsten möglichen Punkt hinunterfahren in die Tiefe des Schächentals oder auf die Glarnerseite, die auch zu Uri gehört, den Urnerboden, der dort in der Höhe noch eine wüste Hochebene bildet. Des Tüfels Friedhof, heisst der gottlose Platz wo unter der abweisenden Nordwand des Clariden kein Gras wächst und wo herunterdonnernde Eistrümmer den ganzen kurzen Sommer lang das Grünwerden verhindern. Dort hinunter ist schon mancher Skitourenfahrer gestürzt und hat einen sicheren und schnellen Tod gefunden. Nach einigen hundert Metern Sturz im sehr steilen Gelände, über die vereisten Felswände und schafzackigen Schrofen hinunter auf die unbarmherzige Ebene steht keiner mehr auf. Neben mir geht schweigend der Geist von Max Bietenholz, ich plaudere mit ihm, ich weiss nicht, ob er sehen kann, was ich sehe, oder ob der Blitz, der ihn vielleicht erschlagen hat die Augen verbrannt hat, und so bleibe ich mit ihm in lockerem einseitigem Kontakt. Ich zeige ihm den Weg durchs Geröll und frage ihn, ob er schon hier war, bevor er dort unten auf 2200 Metern zu Tode gekommen ist. Er gibt keine Antwort, geht aber wacker mit und braucht bis hinauf zum Iswandli keine Verschnaufpause. So ein leichtes, flüchtiges, körperloses Wesen hat auch seine guten Seiten, denke ich, er braucht kein Wasser, muss sein schweissnasses Hemd nicht im kalten Wind der Höhe trocknen, muss kein Dörrobst mit sich tragen, lebt von der Luft, die immer gut und frisch ist, kann sich an der Sonne wärmen, wenn ihm danach zu Mute ist.

Der Blick hinüber zur Nordwand zeigt Erstaunliches. Statt unnahbar wie von unten zeigt sie sich hier auf Augenhöhe sozusagen zugänglich. Sie öffnet sich dem Betrachter und als wollte sie zu einer Eisklettertour einladen zeigt sie ihre Wölbungen, ihre steilen und weniger steilen Seiten. Nach einem eisigen Couloir im untern Teil legt sie sich etwas zurück und bietet dem ehrgeizigen Bergsteiger eine weisse Decke aus Firn an, die mit sicheren Tritten und guten Steigeisen wohl ohne grossen Sicherungsaufwand durchstiegen werden kann. Sie lockt, als wollte sie Besuch bekommen, wie eine Gaststube, die ihre Vorzüge auf die Hauswand schreibt. Hier gibt es flottes Eis. Hier kannst Du ein Held werden. Hier ist eine schöne Alternative zu meinem viel begangenen Nordgrat. Hier schaue ich rüber, vom Nordgrat zur Nordwand und entscheide mich nach einer kurzen, einseitigen Unterredung mit Max Bietenholz, auf dem Grat zu bleiben und den Weg bis hinauf zum Gletscher zu gehen und dann der Vernunft und ihren Wegweisern folgend wieder abzusteigen. Es gibt noch einige steile Stellen, die ich hinaufgehe, zum Teil mich mit den Händen an brüchigen Steinen festhaltend. Max Bietenholz bleibt immer an meiner Seite. Wortlos, aber ich fühle seine Gegenwart in der Gebirgseinsamkeit. Nach einer Steilstufe im Grat sehe ich am Horizont den Gletscher leuchten, hoch schwingt er sich über mir in den Himmel. Das Iswandli, an dem die Erstbesteiger 1853 mit ihren langen unpraktischen Eispickeln viele Stunden mühsame Hackarbeit verrichtet haben, bis ihnen die einer Tigerpranke ähnelnde Faust des Gletschers, die hier vom Chamlijoch hinunter ins Tal zu den Kühen auf der Alp einen eisigen Griff wagte, bis diese Tigerpranke mit so vielen Tritten versehen war, dass die Männer mit ihren genagelten Schuhen ohne Steigeisen, weil es diese noch nicht gab und erst noch erfunden werden mussten, genug Halt im steilen Eis finden konnten, dass sie darüber hinweg auf den flacheren Teil des Gletschers dringen konnten, und den Clariden Gipfel in weniger als zwei Stunden ohne weitere Schwierigkeiten bestiegen. Heute ist die Tigerpranke verschwunden, der Gletscher legt sich zurück, er ist sozusagen in Ruhestellung und sogar zu flach um noch blauschimmernde Eisstücke von sich ins Tal hinunter zu werfen und Wanderern und Kühen einen Schrecken einzujagen. Er hat aufgehört, sich donnern zu schälen, das äusserste Eis ins Tal werfend den Schmutz und Schutt, der sich auf seinem weissen Panzer angesammelt hat loszuwerden. Was einst bedrohlich hier oben gehangen hat und über Jahrtausende den Fels geschliffen hat, und was für pickelnde Alpinisten eine Herausforderung gewesen ist, lässt sich heute im Winter mit Ski überschreiten, ohne dass man den Übergang vom Felsgrund zum Gletscher unter der Schneedecke auch nur spürt. Ganz in der Nähe des Gletscherzunge ist ein Rettungsschlitten in einer Aluminiumschachtel verpackt und senkrecht auf den Fels gestellt, um im Winter, wenn an guten Tagen hunderte von Skitourenfahrern den Berg hochsteigen und dann über die verführerischen Hänge in flottem Tempo hinunter fahren, pulverscheestiebend sich einen Weg durch die menschenfressenden Trichter suchend, wenn diese Skitourenfahrer bei einem Sturz sich verletzen und nicht aus eigener Kraft den Weg ins Tal finden können, dann werden sie mit gebrochenen Beinen, mit ausgerenkten Schultern und verdrehten Knien auf den Schlitten gezurrt, wie eine Wurst gebunden und mit Decken gewärmt, damit sie nicht erfrieren und so ins Tal gefahren, damit nicht noch viele solche Tafeln hier zu stehen kommen wie die für Max Bietenholz. Max Bietenholz zeigt keinerlei Zeichen von Unruhe. So wie ihn der Aufstieg nicht ausser Atem gebracht hat, bleibt er auch ruhig, als ich an dem Rettungsschlitten vorbei bis an den Rand des Gletschers schreite. Max Bietenholz ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Die 49 Jahre, die seine Seele schon hier oben am Klausenpass wohnt, haben ihn an alles gewöhnt, aber ich habe den Eindruck, dass er sich über die Wanderung mit mir freut. Eine Gruppe englischer Bergsteiger ist dort oben damit beschäftigt, sich anzuseilen, doch wir wundern uns, wie umständlich sie das tun. Keiner weiss so recht, was wohin gehört, und in welcher Reihenfolge sie sich einbinden sollen. Ihr Weg soll sie von der Gletscherzunge in zwei Stunden zur Planurahütte führen. Ich setze mich auf einen Felsen und geniesse den Blick in die Runde. Die Jägerstöcke auf der anderen Talseite umgeben sich mit einem Wolkenkranz, die Silberen, die das Muotathal vor meinem Blick versteckt, hat sich schon eine dicke Nebeldecke übergezogen und wie ein riesiger Mahlzahn schabt die Grosse Windgälle an der Wolkendecke, die langsam von Westen her den Himmel überzieht. Nach einigen Bissen Brot, etwas gedörrtem Obst und guten Schlucken Wasser nehmen ich den Abstieg unter die Füsse. Jetzt geht Max Bietenholz vor mir her, er weist mir den Weg, er ist ja hier zuhause seit dem 25. August 1960 und kennt sicher jeden Stein. Sicher führt er mich über die steilen Hänge, durch brüchige Bänder und durch das kleine Labyrinth aus ausgewaschenem Schrattenkalk, bis wir wieder bei seinem Gedenkstein angelangt sind. Er scheint sich von mir zu verabschieden. Ich sage ihm auch Adieu und bedanke mich für die Begleitung. Dann nehme ich nochmals einen Schluck aus meiner Flasche, schütte den letzten Rest vor seinen Stein und springe locker die letzten 25o Höhenmeter hinunter zum Klausenpass, wo mich mein Auto erwartet.

Mittwoch, 26. August 2009

Schlafplatz in luftiger Höhe

Eine Predigt zur Abdankung eines Bergsteigers

Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge."
Reinhold Stecher
http://www.we-wi-we.de/predigten_tod_am_berg.htm#Ablauf der Liturgie
Aufbruch.

Abschiedsfeier für Hans Maes
erfroren am 13.-14. September 1998
am Pößnecker-Klettersteig-Sella in Wolkenstein/Gröden
Eucharistiefeier in der Kapelle der KHG Düsseldorf
am 25. September 1998

Lukas 24, 13-35: Die Emmaus-Jünger

Ablauf der Liturgie
Meditative Orgelmusik
Evangelium nach Lukas
Lukas 24, 13-35: Die Emmaus-Jünger
Wir gehen schweigend zum Friedhof Stoffeln.
Begrüßung
Rüdiger Kerls-Kreß, KHG Düsseldorf
Lied
Meine Zeit steht in deinen Händen
Vor Friedhofskapelle wir grüßen Hans Maes zu seinem letzten Aufbruch
Liturgische Eröffnung
Predigt
Gebet am offenen Grab
Lied [GL 621]
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr Lied zur Gabenbereitung
Wenn das Brot, das wir teilen
Symbole
Wasser, Weihrauch, Erde, Kreuz
Gebet [ commUNity 17.09.98 ]
Sanctus-Lied [GL 469]
Gebet für Verstorbene und Lebende
Lesung
"Die schwersten Wege für R. H." von Hilde Domin
Schlussgebet
Ich werde nicht sterben
Abschließendes Segenswort
Lied
Von guten Mächten treu und still umgeben
Lied
Christ ist erstanden
Segen
Irische Segenswünsche


Renata, lieber Rafael,
verehrte Eltern L. und H. M., liebe Geschwister von Hans,
verehrte Eltern H. und O. V.,
lieber Christian und liebe Geschwister von R.,
liebe Verwandte und Freundinnen und Freunde von H. und R.,
queridos amigos argentinos,
liebe Studierende und Kolleginnen und Kollegen der KHG Düsseldorf,
Schwestern und Brüder im Glauben!

"Und sie brachen in derselben Stunde auf" so haben wir am Ende der Geschichte der Emmaus-Jünger gehört. "Aufbruch" ist auch das Thema, das Du, R., der Todesanzeige für H. vorangestellt hast, als Über-Schrift über die Sella-Gruppe, wo H. in den späten Stunden des 13. Septembers schlafend erfroren ist. Den Gipfel des Puiz Selva mit gut 2.900 m hatte H. am frühen Nachmittag hinter sich gelassen, im Gipfelbuch steht sein Name. Dass H. damit auch den Gipfel seines Lebens überschritten haben sollte, konnte an diesem strahlenden Sonntagmorgen keiner von uns ahnen. Die Zeit am Gipfelkreuz des Puiz Selva wurde so für H. zur Vigilfeier des Festes "Kreuzerhöhung", das die Kirche am 14. September feierte. Im Kreuz ist Sieg, im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben. Das Gipfelkreuz ist Ausdruck dieses Glaubens.

Diese Fest-stellung lindert nicht den Schmerz, bemächtigt nicht die Ohnmacht, hebt Wut und Trotz nicht auf, ist aber das "Trotz-dem", e i n e mögliche Antwort des Glaubens, gleichsam ein geistlicher Karabinerhaken. Die Emmaus-Jünger nehmen ja auch Reißaus vor dem Kreuz, kehren der Stadt des Kreuzes den Rücken zu, begreifen das Zeichen des Kreuz nicht. Unterwegs reden sie miteinander, lassen einander teilhaben an der jeweiligen Verständnislosigkeit. In ihrer Hoffnungslosigkeit suchen sie Sicherheit in der Rückkehr zum Alten, Vertrauten, Gewohnten. Sie, die Jesus so nahe waren, haben ihn noch nicht begriffen, konnten ihn noch nicht begreifen. Auch ein Thomas vertraute nicht dem Wort, Er ist auferstanden. Thomas wollte berühren, um zu begreifen. Das Kreuz kann zunächst Angst machen.

Wir HochschulseelsorgerInnen haben auch viel geredet in diesen Stunden und Tagen in Brixen, seit wir fest-gestellt hatten, dass H. aufgebrochen war. Wohin war er aufgebrochen? Warum war er aufgebrochen? Wozu war er aufgebrochen? Dass es der verbindliche und letzte Aufbruch werden sollte, wusste H. nicht. Denn in seinem Zimmer 347 im Priesterseminar in Brixen lag noch ein Südtiroler Fladenbrot, ein Stück Käse, zwei Flaschen Schweppes Tonic für eine zweite Bergtour am Montag. Ab Montag Abend wollte er an der Tagung der Konferenz für katholische Hochschulpastoral teilnehmen. Bei der Eröffnung der Tagung vermissten H. einige wenige Kolleginnen und Kollegen. Dann fehlte H. einfach allen TeilnehmerInnen. Wir blieben traurig stehen, vereinzelt, in kleinen Gruppen, während die Tagung zum Gehen kam. Wir konnten die "Botschaft der Berge" [Reinhold Stecher] noch nicht begreifen. Wir hatten nichts zum Begreifen.

Abstrakt und bibeltheologisch weiß ich, dass durch die Heilsgeschichte hindurch Berge die Orte sind und waren, an denen Gotteserfahrungen sich ereigneten und ereignen können: der Berg Horeb, der Berg Carmel. Jesus selbst betete immer wieder auf einem Berg. Und Jesus führte seine Jünger auf dem Weg nach Jerusalem auf einen Berg, den Berg der Verklärung, um ihnen eine Idee, eine Anschauung dessen zu geben, was über Leid und Kreuz hinausweist. Und viele von euch wissen das alles auch.

Da ist dann aber auch die existentielle Begegnung mit dem Berg. Jene körperliche Anstrengung, die physische Erschöpfung, die geistlichen Gewinn bringt: das Hintersichlassen des Alltags, das freie und tiefe Atmen, der Blick aus der Höhe und der Blick in die Tiefe. Das Grenzenlose zwischen Himmel und Erde spüren, wenn Wolken mich einhüllen und Wind durch die Poren die Haut neu zu beatmen scheint. Dem Grenzenlosen unendlich nah: Gott.

"Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge." Reinhold Stecher, der Altbischof von Innsbruck, stellt diese Aussage an den Beginn seinen meditativen Buches "Die Botschaft der Berge".

Aufbruch in den Berg heißt immer, etwas hinter sich zu lassen, etwas unter sich zu lassen, sich auszustrecken nach oben, sich dem Unnahbaren zu nahen.

H. hat darum gewusst, hat daraus gelebt, dass der Unnahbare Gott, sich uns genähert hat: in Jesus von Nazareth. Und H. wusste um das Kreuz als Ärgernis und Torheit und um das Kreuz als Zeichen des Heils. In seiner Bibel [gezeichnet "3.8.1981 H. M."] hat er aus unserem Emmaus-Evangelium den Satz unterstrichen: "Wahrhaftig, der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen!" Diese befreiende und frohmachende Botschaft wurde den Emmaus-Jüngern zugesprochen, nachdem sie aufgebrochen sind. Aufbruch eröffnet neue Horizonte, ermöglicht Erfahrungen, führt zur Begegnungen mit anderen, bildet Gemeinschaft.

Aufbruch ist immer riskant. Aufbruch ist die Einladung, Gewohntes, Vertrautes, Routine hinter sich zu lassen. Aufbruch ist Quelle neuen Lebens.

Der Aufbruch in den Pößnecker-Klettersteig kann als Gleichnis zur Anfrage an uns als Einzelne, als Hochschulgemeinde, als Kirche werden. Der Berg als Gleichnis deines, meines, unseres Glaubenslebens. Als geistliche Herausforderung für das Leben, für das Leben danach, für das ewige Leben.

Da gibt es viele Glaubenslandschaften, die bequem mit dem Auto, dem Bus erreichbar sind, auch wenn sie nicht auf unserem Lebensweg liegen. Geistliche Verkehrsmittel gibt es zahlreiche. Als geistlicher Tourist kann ich sie umfahren, hinter dem Fenster vorbeiziehen lassen und zurückkehren mit den Bildern einer blühenden und faszinierenden Landschaft. Geistlicher Massentourismus ist Mode: [fast] zum Nulltarif, sicherlich keimfrei, kaum langfristig ansteckend.

An einigen Stellen gibt es Haltepunkte, um den Glaubenslandschaften direkt und unvermittelt zu begegnen. Oft haben wir aber wenig, zu wenig Übung, geistliche und körperliche, um den Haltepunkt zum Ausgangspunkt für einen Aufbruch zu nehmen. Wir lassen uns beeindrucken von den Rastplätzen und Kaufbuden, wo uns geistliche Andenken wohlfeil angeboten werden. Das geistliche Geschäft scheint zu blühen, zumindest treibt es Blüten, manchmal auch Blüten in die Kassen.

Mancher Wallfahrer mutet sich auch einen Spaziergang in der neu entdeckten Glaubenslandschaft zu. Da gibt es Angebote für den Mann mit Birkenstock-Sandalen und die Frau mit dem eleganten italienischen Schuh. Sie erfreuen sich an den satten Weiden des Glaubens und stolpern, wenn die amtlich asphaltierten Wege in das Unterholz führen. Dann wird auch das geistliche Leben so erschreckend konkret und wirklich, da gibt es viel Schatten und kühle Brisen kühlen den strahlenden Übermut manches Schönwetterchristen.

Einige haben schon Erfahrungen mit geistlichen Übungen und wissen, dass es ohne geistliches Rüstzeug keine Gotteserfahrung am Berg gibt. Sie finden wir dann auf den ansteigenden Bergwegen, wo Wurzeln und Steine den raschen Schritt bremsen und unerwartete Wasserläufe zu scheinbaren Umwegen führen. Solche Menschen leiden am Raubbau, auch dem geistlichen, den andere und Institutionen in der geistlichen Landschaft betreiben. Da werden geistliche Rennbahnen durch schützenswertes geistliches Gelände geschlagen, mancher keimende geistliche Trieb wird betoniert und fällt der Begradigung zum Opfer.

Nicht wenige Menschen verfügen über eine geistliche Grundausstattung, die es zulässt, sich in größeren Höhen der Glaubenslandschaften sicher zu bewegen, wenn geistliche Klettersteige als Hilfestellungen geboten sind. Da braucht es dann Gurte und Haken, geeignete wetterfeste Kleidung, eine Notration gegen geistliche Dürre und seelischen Hunger. Und es braucht das Vertrauen, dass andere den Klettersteig pflegen und hegen, dem ich mich anvertraue. Ausdauer ist erforderlich und der Mut, umzukehren, wenn ein geistlicher Klettersteig beim ersten Male zu anstrengend ist, meine Vorbereitung nicht ausreichend, oder geistliche Wetterlagen das Leben bedrohen können. Der Lohn der geistlichen Anstrengung ist eine geschenkte Nähe zu sich selbst, das Mitfühlen mit und in der Schöpfung, das Anwehen des Geistes, den wir den Heiligen Geist nennen. Der Lohn der geistlichen Anstrengung ist auch eine geistliche Weite, die viele engen Täler relativiert und der Vielfalt des alltäglichen geistlichen Lebens Raum lässt.

Für viele ist es dann eine Überraschung, dass es sich in den geistlichen Höhen wohl leben lässt, dass es Räume gibt, die zum Verweilen einladen, dass es Ruhe, Sonne und Wärme gibt und eine Fülle an Farben, an die sich die geistlichen Augen nur langsam gewöhnen. Da kommt dann die Versuchung, die uns Markus in seiner Verklärungsgeschichte überliefert. Der Petrus, der Fels, will drei Hütten bauen, will sich niederlassen, will die Höhe festhalten. Markus bemerkt in seiner sympathisch-frechen Art, der Petrus wusste halt nicht, was er reden sollte.

In diesen Höhen geistlichen Lebens drohen auch Gefahren, globale Klimaänderungen, lokale Gewitter und nicht wenige hausgemachte Probleme drohen. Statt vorhandene Klettersteige zu hegen und zu erhalten, werden sie für den geistlichen Massentourismus bereitet. Die Freiräume zwischen den Sicherungen werden enger gesetzt, Wege ohne Grund umgeleitet, gekannte und vertraute gefährliche, aber freimachende Grate, werden großräumig umgangen. Manchem hauptberuflichen Bergwächter sind die zu gehenden Wege, die begehbaren Wege und die neu zu schaffenden Wege selbst nicht [mehr] vertraut. Sie gleichen Petrus, der auf dem Gipfel des Glaubens einmal angekommen meint, durch das Hütten auf dem Berg könnte Himmel und Erde zusammengehalten werden. Und diese Bergwächter gibt es nicht nur in den geistlichen Höhen einer Sella-Gruppe, die finden wir auf den Sandhügeln unserer Städte und Dörfer, die finden wir, wenn wir nur genau hinsehen, sogar auf unserem jeweiligen geistlichen Misthaufen vor der eigenen geistlichen Hütte.

Es folgt aber auch für einen geistlichen Hochleistungssportler der Abstieg vom Gipfel, der Weg nach unten in die anderen Wirklichkeiten des Lebens. Selbst dem geistlichen Spaziergänger bleibt dieser Weg von seinem Gipfel hinab nicht erspart.
Und beim Aufbruch nach unten, in das "wirkliche" Leben, da erklärt Jesus seinen Jüngern, er müsse leiden, er werde am Kreuz sterben, aber er werde auferstehen am dritten Tag. Es sollte der Ölberg sein, wo sein Leidensweg beginnt, ein harmloser Hügel vor den Toren von Jerusalem. Und auf einem anderen Hügel, der Schädelstätte, stehen die Kreuze, die Schandmale seiner Zeit. Erreichbar für jeden geistlichen Voyeur. Sein Kreuz wird in der Mitte zwischen zwei anderen stehen. Der Himmel schwarz! Sein Leben zu Ende!

Warum also nicht Jerusalem den Rücken zu kehren, wie es die Emmaus-Jünger taten? Warum nicht über das Unfassbare reden? Warum nicht verwundert sein, wenn andere scheinbar ahnungslos sind? Jesus, der Erhöhte und Auferstandene, holt seine irritierten, hoffnungslosen Jünger ein. Er bricht ihnen das Brot. Daran erkennen sie Ihn. Und sie sind fähig zum Aufbruch.

Auch R. und wir alle waren irritiert und hoffnungslos und orientierungslos, als wir den aufgebrochenen H. suchten. R.s Schmerz und der unsere machten uns sprachlos und hilflos und wir redeten oft so irr und wirr, wie die Jünger von Emmaus. Ich spürte, dass Sein Kreuz mein Kreuz belastete und mein Primizspruch "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" [1 Petr 3,15] mindestens einige geistliche Schuhgrößen zu weit war.

Die schrecklich befreiende Nachricht, dass der leblose Körper von H. gefunden sei - es war am 17. September, dem Fest der Heiligen Hildegard - , setzte bei uns geistliche Energien frei. Wir trotzten Gott mit einem trotz-dem. Wir lassen Gott nicht aus der Pflicht. Wir muten uns Ihm wieder und wieder zu. Ja, mehr noch: wir danken ihm trotz-dem.

Deshalb feiern wir heute in der Eucharistie das Letzte Abendmahl, feiern Seinen Tod und Seine Auferstehung und Sein Versprechen, dass Er auch unseren Tod nicht will, sondern uns vorangegangen ist, um Wohnung zu bereiten. Und wenn jemand hier unter uns ist, der zweifelt, der sich sorgt, es könnte doch Vertröstung sein: schau auf Thomas! Der fragt Jesus ganz offen: Wohin gehst du und wie kommen wir dorthin? Und Jesus antwortet ihm: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Und das glaube ich, mit Trotz und trotzdem, dass H. am Berg erfroren ist, weil der Schnee und die Kälte ihn umhüllten. Trotzdem, mit Trotz und in Hoffnung.

Da liegt für mich die "Botschaft der Berge", die uns H. wahrzunehmen nötigt durch seinen Tod: Habt den Mut zum Aufbruch! Macht Euch auf den Weg in geistliche Höhen! Aber trainiert und achtet auf euer geistlichen Rüstzeug. H. hatte sich eine lange Liste angelegt, was er nach Brixen mitzunehmen hat, damit der Aufbruch gelingt. Brechen wir auf: in seiner Familie, in der KHG Düsseldorf, in der Kirche in Deutschland, in der Ökumene, einfach: wagen wir einen Aufbruch in die vielfältigen geistlichen Landschaften unseres Glaubens an den Auferstandenen.

Am Anfang hatte ich drei Fragen gestellt, auf die ich euch und mir die Antworten schuldig geblieben bin. Es sind Versuche einer Antwort, weil H. mir Bilder für eine Antwort nahe gelegt hat, die ich mit meinen Augen lese.

Wohin war er aufgebrochen? Die Antwort kennen wir vom Ende des Aufbruches her: in den Pößnecker-Klettersteig der Sella in Wolkenstein/Gröden. Den Weg von H. könnt ihr nachvollziehen auf dem Bild des Liturgieblattes.
Warum war er aufgebrochen? Die Antwort hat H. sich selbst gegeben mit einem von zwei Zeitgutscheinen, die er beim comUNIty-Gottesdienst am 12. September 1998 sich selbst geschenkt hatte: "Zeit für die Natur, ihre Farben, Gerüche, Geräusche wahrnehmen". Die konnte H. beim Aufstieg in vollen Zügen genießen.

Wozu war er aufgebrochen? Ob H. dazu den zweiten Zeitgutschein eingelöst hat, kann ich nicht beantworten, das bleibt sein Geheimnis. Auf dem zweiten Zeitgutschein steht: "Zeit, die ich brauche, um zur Ruhe zu kommen".


Gott schenke H. die ewige Ruhe!

Und Du, H., begleite unsere geistlichen Aufbrüche und warne uns, wo Frost und Eis, Schnee und Kälte in unserer, deiner Kirche das Leben von unten bedrohen. Bitte den Parakleten, den Beistand, den Tröster, dass er uns in dieser Stunde nahe ist. Aber noch mehr in den Wochen und Monaten, die folgen, dass dein Tod uns nicht lähmt, deine Aufbrüche auf unsere Weise weiterzuführen. Amen.

Lesung
"Die schwersten Wege für R. H." von Hilde Domin

Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehn
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.

Eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen -
und du ihre Stimmen wieder hörst
nahe
bei deinem Herzen.

aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1987, S. 118-119

Recherche


Um meine Masterarbeit mit Bildern zu dokumentieren, und einen Teil der Erzählung dem Auge zu überlassen, reise ich jetzt regelmässig in die Berge um Leute zu interviewen und Fotos von Orten zu machen, die mit dem Thema etwas zu tun haben.
Hier ein Aussicht aufs Bietschhorn von der Furkapasshöhe aus.

Besonders alte Gräber erzählen Heldengeschichten. Heute ist man dezenter geworden.





Friedhof Grindelwald